Vaethyr: Die andere Welt
nachzufragen versuchte, was sie damit meinte, sah sie uns ernst an und erteilte uns eine Lektion über Gespräche, die wir mit den Eltern führen sollten.«
Jessica stöhnte. »Das ist ja großartig, Sapphire weiß also Bescheid.«
»Vermutlich wissen in Cloudcroft bis auf Luc und mich alle Bescheid.«
»Nein. Nur Phyll und Comyn, und sie würden es nie weitertragen. Ob Lawrence es seinen eigenen Söhnen erzählt hat – ich habe keine Ahnung.«
»O Gott.« Rosie wurde schlagartig klar, dass die Schockwelle sich ausbreiten würde. Sam bekäme dadurch noch mehr Munition geliefert und Jon einen Grund mehr, sie zu verachten. »Erinnerst du dich an den Rat, den du mir gegeben hast, Mum … hinsichtlich unserer Macht, unsere Fruchtbarkeit zu kontrollieren? Wenn es also ein Unfall war – warum hast du beschlossen, ein Kind von Lawrence zu bekommen?«
Die Frage hing schwer zwischen ihnen.
»Das kann ich nicht beantworten«, sagte Jessica mit belegter Stimme. »Ja, ich ließ es geschehen, aber bis zum heutigen Tag habe ich keine Ahnung, warum. Ein Impuls. Als hätte Lucas darauf bestanden, geboren zu werden, und ich nicht den Willen gehabt, dies zu verhindern. Und wer wollte schon auf ihn verzichten müssen?«
»Keiner«, sagte Rosie emphatisch.
Jessica hielt den Kopf schief. »Kannst du mir verzeihen?«
»Sofern Lucas es kann.« Sie ging zu ihrer Mutter und schloss sie in ihre Arme. »Es ist kein Weltuntergang.«
Sie hielten einander lang umschlungen. »Du bist ein wunderbares Mädchen, Rosie. Auf jeden Fall hast du Auberons freundliches Herz. Ich muss ihn anrufen, und dann ist da noch Matthew … Nun komm schon, der Tag wartet.«
Rosie erhob sich, zwar ruhiger jetzt, aber noch immer erschüttert. »Mum … dein, äh, Moment mit Lawrence … das ist nicht der Grund, weshalb Ginny ihn verlassen hat, oder?«
Eine lange Pause. Schließlich antwortete Jessica, die bereits auf dem Weg zur Tür war: »Sagen wir mal so, es hat die Situation nicht verbessert.«
Später fand Rosie Lucas, weil sie dem Geräusch eines Tennisballs folgte, den er gegen die Garagenwand schlug. Er grinste sie an, wandte sich gleich darauf aber wieder ab und knallte den Ball nur umso heftiger dagegen.
»Hör auf«, sagte sie und zog ihn am Arm. Sie ging mit ihm in eine Laube mit einer von Moos bedeckten Sonnenuhr und einer Steinbank und ließ ihn neben sich Platz nehmen. »Wie verlief dein Gespräch mit Mum?« Er wandte sich seufzend ab. »Na komm schon, wir müssen reden.«
»Wozu soll das gut sein?«, fragte er. »Mum meint, sie kann es mir leichter machen, aber das kann sie nicht. Ich dachte, ich wüsste, wer ich bin, und jetzt … ich fühle mich elend.«
»Es war unglaublich grausam von Lawrence, es dir auf diese Weise zu sagen. Warum hat er das getan?«
Lucas zuckte mit den Schultern. »Es war das erste Mal, dass er mir je allein begegnet ist, und er hatte auch schon einiges getrunken. Jedenfalls war er ehrlich. Womit ich nicht klarkomme, ist der Betrug.« Er saß auf der Kante der Bank, auf der er sich mit seinen Händen abstützte, sein dunkles Haar fiel nach vorne. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Lawrence war nicht zu leugnen, wie sie fand, die langen Gliedmaßen und die hagere Gestalt. »Ich will mir nicht vorstellen, wie es passiert ist.«
»Ich auch nicht«, sagte sie, und sie schwiegen, entschlossen, nicht darüber nachzudenken. »Nur Mum weiß es und sie sagt nichts.«
Lucas kaute an seinem Daumennagel. »Willst du wissen, was ich vergangene Nacht mit Jon gemacht habe? Wir haben versucht, durch die verschlossenen Tore in die Anderswelt zu gelangen.«
Ihr fiel die Kinnlade herunter, zugleich jagte ihr Jons Name einen Stromschlag durch den Körper. » Was ? Wie?«
»Nicht im wörtlichen Sinn.« Er lachte verschämt. »Gewissermaßen in … Trance.«
»Und ist es dir gelungen?«
»Nein. Ich glaube, er erwartete von mir, dass ich unglaubliche Visionen habe aufgrund meines alten Bluts und so.« Lucs Kopf sank tiefer. »Glaubst du denn, er weiß, dass wir …? Mein Gott, ich kann’s gar nicht aussprechen. Brüder. Ist das der Grund, weshalb er mehr von mir erwartet? Ich wollte ihm gefallen. Weiß selbst nicht, warum. Er hat etwas an sich …«
»Ja«, sagte Rosie hilflos. »Ich weiß.«
»Aber wenn es ihm doch niemand gesagt hat … wird er jetzt wütend sein? Wird er auch weiterhin mit mir befreundet sein wollen?«
Rosie nahm seine Hand. »Es gibt niemanden, der nicht mit dir befreundet sein möchte, Luc. Wenn er das
Weitere Kostenlose Bücher