Vaethyr: Die andere Welt
Heimatreich Sibeyla. Seinen Rückflug von New York verbrachte er halb erinnernd, halb träumend und befand sich wieder dort auf den luftigen Höhen von Sibeylas Bergen mit seinen turmreichen Städten …
Seine Mutter Maia hatte er kaum gekannt. Sie war ihrem eigenen Ruf gefolgt und in der Spirale verschwunden, als er noch sehr klein war, und er erinnerte sich nur noch an ihr dunkelrotes Haar. Aufgezogen hatte ihn Albin, ein großer Mann mit marmorblasser Haut und schwanenweißem Haar. Albin jedoch war ein kalter, schwieriger, verschlossener Mann, dessen Gedanken von der Trauer um Maia beherrscht wurden und der Lawrence mit strenger Disziplin und Kritik erzog – sofern er ihn überhaupt wahrnahm.
Liebe erfuhr er nur von seiner Großmutter Liliana, doch sie war die Torhüterin und lebte auf Erden, weshalb er sie nur selten sah. Eines Tages kam Liliana zu ihnen und sagte, wenn ihre Zeit vorüber sei, werde der Mantel des Torhüters nicht auf ihren Sohn Albin, sondern auf Lawrence übergehen.
Albin hatte diese Nachricht mit stählernem Schweigen aufgenommen. Lawrence, damals noch ein Kind, stritt mit ihr; sicher sei sein Vater doch der rechtmäßige Erbe?
»So funktioniert das nicht«, lautete ihre sanfte Antwort. »Das Lych-Licht wird vom Spiral Court verliehen. Für gewöhnlich bleibt es in unserem Zweig des Hauses von Sibeyla, das ist richtig, aber nicht notwendigerweise in direkter Linie. Dies bedeutet, dass du mit mir an die Vaeth, die Oberflächenwelt kommen musst, damit ich dich unterrichten kann.«
Liliana war voller Leben und Weisheit, Albin dagegen eisig und distanziert. Natürlich wollte Lawrence mit ihr gehen. Doch Schuldgefühle quälten ihn: Es war sicherlich falsch, seinen Vater zu verlassen, nachdem Maia ihn bereits verlassen hatte. Aber er wusste, dass er Liliana folgen musste …
Als Lawrence sich zum Aufbruch bereit machte, stand sein Vater als leuchtende Gestalt vor dem changierenden bläulichen Dunkel. »Du hast wirklich vor, zu gehen?«, sagte Albin mit dünner Stimme. »Sibeyla den Rücken zu kehren der einfacheren Freunde Vaeths wegen? Indem du zu einem Vaethyr wirst, wirst du ein Geringerer. Du degradierst dich selbst. Wenn es nach mir ginge, gäbe es keine Tore und überhaupt keinen Kontakt mit der Menschenwelt.«
Lawrence war hin- und hergerissen. Nichts, was er je gesagt oder getan hatte, vermochte seinen Vater zufriedenzustellen. Wofür auch immer er sich entschied, gewinnen konnte er nicht, aber Lilianas Ruf war stärker. »Ich muss Großmutter folgen«, sagte er.
»Dann sollst du dies wissen …« Albin öffnete seine Hand und zeigte ihm eine Tafel aus bleichem Kristall, in dessen Oberfläche Symbole geschnitten waren. Lawrence erkannte sie. Furcht durchfuhr ihn. »Ich nehme dein Herz, deine Seele und deinen Wesenskern als Geisel in diesen Elfenstein. Deine Seelenessenz. Wenn du gehst, gehst du ohne sie. Wenn du nicht zurückkommst, wirst du auf Vaeth für den Rest deiner Existenz ohne Herz und Seele leben.«
Dunkelheit hüllte ihn ein.
Ein kleines Kind … weit weg im Nebel der Andersweltzeit … Wenn er allein war, suchte ihn jedes Mal ein Geistergesicht an seinem Bettchen heim. Es war zweidimensional und hatte die Farbe von Eis in der Nacht, es sagte nie ein Wort. Es tauchte einfach auf und gab ihm wortlos zu verstehen, dass es ihn immer heimsuchen würde. Eine Kindheitsfantasie? Nein, es war zu grässlich, um es einfach abzutun. Erklären konnte er es nicht. Von Kindheit an hatte er jedenfalls begriffen, dass er es ein Leben lang mit einem Feind zu tun hatte, einem schrecklichen, irrationalen, unersättlichen Peiniger.
Seine ganze Existenz wurde von der Tatsache beherrscht, dass er es mit einem höllischen Gegner zu tun hatte, der genau diese Existenz infrage stellte – wie Qesoth, der Elementargeist des Feuers, der nicht existieren konnte, ohne einen Schatten zu werfen: Brawth. Lawrence wusste, dass sein einziger Schutz dagegen seine eigene Essenz war – und genau diese hatte Albin ihm gestohlen.
Keiner Seele hatte er anvertraut, was Albin an diesem Tag mit ihm gemacht hatte. Er hatte in verzweifeltem Schweigen damit gelebt und gewusst, nie der Torhüter sein zu können, den Liliana sich wünschte: Dass er dazu verdammt war, sie und seinen Vater gleichermaßen zu enttäuschen. Aber ein Teil von ihm sagte sich: Verdammt sollst du sein, Albin . Wenn ich dich enttäusche, weil ich weggehe und heilige Steine fördere und verkaufe, weil ich das Lych-Licht besitze, das deiner
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