Vaethyr: Die andere Welt
sich wenigstens etwas Exotisches einfangen, sofern Vaethyr für Krankheiten überhaupt anfällig waren: Malaria vielleicht oder Ebola.
Jon war das genaue Gegenteil, unsicher, geheimniskrämerisch. Er tolerierte sie mit der ihm eigenen schicksalsergebenen, indifferenten Art, aber er vertraute ihr inzwischen. Wenn er Rat oder Zustimmung brauchte, wandte er sich an sie – er war so verletzlich. Seine Not war ihre Macht.
Sie wusste, dass sie es bei Lawrence heute zu weit getrieben hatte, aber seine Reaktion hatte sie auf die Palme gebracht. Er war so herablassend gewesen. Wie konnte er nur! Wieso maßte er sich an, ihr die Anderswelt zu verbieten?
Also hatte ihr Leben diesen Weg genommen, den Weg der kalten Vergeltung, der vermutlich sogar wesentlich befriedigender war als der Weg reiner Liebe. Schließlich hatte sie ihr Versprechen jemandem gegeben, der weitaus wichtiger war als Lawrence. Wenn sie Lawrence Wilder schon nicht kontrollieren konnte – nun, dann gab es andere, die sie kontrollieren konnte, und andere Wege, ihn zu verletzen.
Sapphire warf ihr Haar in den Nacken und grinste. König und Königin, wie lächerlich. Irgendwann in nächster Zeit würde sie mit einer Hand sein Königreich an sich reißen und ihm mit der anderen direkt in sein schwarzes steinernes Herz stechen.
»Sieht nach nichts Besonderem aus«, sagte Rosie. »Irgendwie vernachlässigt.«
»Genau das ist auch der Sinn dahinter«, sagte Jon. »Es soll ja verborgen bleiben.«
Der sagenumwobene Zugang zur Anderswelt war ein Felsen aus gefaltetem Diorit und herabgestürzten Gesteinsblöcken, deren Flächen von den gewaltigen Kräften, die sie vor einer halben Milliarde von Jahren aus dem Boden katapultiert hatten, deformiert und mit Quarzstreifen durchzogen waren. Um ihre Sockel wuchs Farn. Die Flanken des Bergs fielen nach hinten steil und sanft nach vorne ab. Dort hatten sich in der flachen Mulde eine Handvoll von Jons Collegefreunden versammelt. Ein im Dämmerlicht grün schimmernder Wald aus Eichen und Buchen umgab kreisförmig den Gipfel.
Lucas ergänzte: »Da kann man keinen großen goldenen Torbogen mit Neonpfeilen erwarten, auf denen »Hier geht’s zum Elfenland« aufblinkt.
»Oder einen Ort wie Las Vegas, wo jeder x-beliebige Legolas einfach kommen und gehen kann«, sagte Rosie. Und zu ihrer Freude lachte Jon. Wow, sie hatte ihn zum Lachen gebracht!
Es waren die Sommerferien am Ende ihres zweiten Collegejahres. Jon besuchte die Kunstakademie in Nottingham und Lucas hatte dort viele Wochenenden verbracht – gegen Jessicas Willen, da sie wegen seiner Ausbildung in Sorge war. Er und Jon hatten eine Band gegründet, wie Studenten das tun. Rosie war am gestrigen Abend dort gewesen, um sich einen Auftritt anzuschauen. Sie waren gar nicht so schlecht, ein wenig überheblich, aber immerhin harmonierten sie, mit Luc an der Gitarre, drei anderen an Schlagzeug, Bass und Keyboards und Jon, dem Frontmann, der kryptische Verse sang, die nur ein Vaethyr verstehen konnte. Seine Stimme war nichts Besonderes, aber sein Charisma im Scheinwerferlicht zog das Publikum in seinen Bann.
Anschließend hatten sie gefeiert. Beim Anblick der, wie sie es empfand, Groupies, die sich Jon an den Hals warfen, war Rosie erst ungehalten, dann verdammt unglücklich gewesen. Den ganzen Abend lang stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als wäre ein Lichtstrahl auf ihn gerichtet. Seine Fangemeinde gefiel ihr nicht. Und die Vorstellung, dass Luc mit ihnen verkehrte, beunruhigte sie. Jon war so nah, aber sie bekam ihn nicht zu fassen und musste stattdessen wasserstoffblonde Freaks ertragen, die sich an ihn ranschmissen. Sie hatte so viel getrunken, dass sie den Abend nur noch wie im Nebel wahrnahm, und in den frühen Morgenstunden war sie mit dem harten Kern in ein paar Taxis gestiegen, um nach Stonegate zu fahren. Lawrence hielt sich in New York auf, wie Jon erklärt hatte, also war es kein Problem.
Die Groupies waren weniger geworden und die einzige Konstante an Jons Seite war Lucas. Er hatte sich die Haare wachsen lassen und begonnen, sich wie Jon zu kleiden, und sogar dessen Haltung angenommen: hochgezogene Schultern, die Hände in den Taschen. Als Brüder nahm sie die beiden noch immer nicht wahr, aber sie waren ein hübsches Gespann, wie ein Paar umwerfender junger Schauspieler in einem Kostümfilm. Ihre Unterhaltung fand im Flüsterton statt, damit die Menschen nichts mitbekamen.
»Mich überrascht, dass du keine Ahnung von diesem Portal hattest«,
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