Vaethyr: Die andere Welt
Meinung nach du hättest haben sollen – so soll es sein. Ersticke an deinem eigenen Groll .
Der Traum entwickelte sich zu einem Albtraum und Lawrence war wieder in Ecuador.
Von seinem Stuhl auf der Veranda konnte er das Ende des zerklüfteten Tals sehen, wo Albinitsteine wie versteinerte Tränen aus dem roten Fels von Naamon herausquollen. Im Zwielicht funkelten im Valle Rojo winzige Lichter wie die Augen von Dryaden. Darum herum wand sich der vor Leben zwitschernde Regenwald. Die Hitze war einschläfernd, der Stuhl neben ihm – leer.
Es war, kurz nachdem Ginny ihn verlassen hatte. Aus der Kälte Englands, den Schatten von Stonegate, den formlosen Ungeheuern, die ihn bedrohten, war er hierhergeflohen. Ohne Ginny und ihre Unzufriedenheit konnte er für immer bleiben, aber ohne sie fand er es sinnlos, hierzubleiben. Jetzt war alles einerlei – ob er in dem ihn umhüllenden Kokon der Hitze lebte oder am Rand des eisigen Todes dahinvegetierte.
Er sah eine sich nähernde Gestalt: einen beleibten Mann in Kakikleidung, der aussah wie ein Großwildjäger. Sein glänzend kahler Schädel war unverkennbar. Lässig wie ein Tourist blieb der Mann stehen, um die Aussicht zu genießen, bevor er die Verandastufen hinauftrottete.
»Du solltest dir wirklich einen Bodyguard anschaffen, Lawrence«, sagte er heftig schnaufend. Schweiß glänzte auf seinem fleischigen roten Gesicht und auf dem Stiernacken. Die Augenbrauen zuckten nach oben wie Dämonenhörner. »Ich hätte irgendwer sein können. Und könnte eine Waffe dabeihaben.«
»Ich ebenso«, sagte Lawrence schmallippig. »Was um Himmels willen tust du hier?«
»Ich komme nur so vorbei.« Eugene Barada ließ sich wie ein kleines Flusspferd auf den Stuhl neben ihm plumpsen. Er sprach mit dem Stakkato-Akzent der Südafrikaner. »Ganz allein?«
Lawrence zeigte keine Reaktion. »Einen Drink?«, fragte er und schenkte Whiskey ein.
»Wenn du ihn nicht vergiftet hast.« Barada nahm das Glas entgegen. »Wie geht es deiner reizenden Frau?«
Lawrence stierte in die dampfenden Schatten des Tals. »Virginia und ich sind nicht mehr zusammen.«
»Das tut mir leid zu hören, Kumpel«, sagte Barada. »Ohnehin erstaunlich, dass sie es so lange mit dir ausgehalten hat.«
Lawrence antwortete nicht. Der Dschungel schien sich mit seinem Herzschlag auszudehnen und zusammenzuziehen. Zorn loderte in ihm auf. »Was willst du?«
»Dasselbe, was ich immer will. Was soll ich denn sonst noch tun? Ich könnte Pacht verlangen oder dich von diesem Land vertreiben. Stattdessen biete ich dir an, es dir abzukaufen. Nenn mir deinen Preis.«
Eugene Barada war ein Landspekulant, der Anspruch auf diesen versteckten Streifen Regenwald erhob. Vor Jahren war er in dieses verborgene Tal eingefallen und hatte Lawrence’ Arbeiter bedroht. Lawrence hatte ihn vertrieben, aber Barada war mit bewaffneten Männern zurückgekommen und hatte versucht, die Mine mit Gewalt an sich zu reißen. Voller Verachtung hatte Lawrence die Schrecken von Dumannios heraufbeschworen und sie damit verrückt und schreiend in den Dschungel getrieben – aber Barada wollte einfach nicht aufgeben.
Es war der Anfang eines langen, erbitterten Kampfes. Der Rechtsanspruch Baradas interessierte Lawrence nicht. Valle Rojo lag in den Schattenreichen, die Mine war eine Lücke, die zu Naamon führte, Albinit ein Edelstein der Anderswelt; nichts davon hatte einen Sterblichen zu interessieren. Doch Barada behauptete sich hartnäckig: Gerichtsverfahren, Waffengewalt; zwar vermochte nichts Lawrence umzustimmen, aber der Südafrikaner gab nicht auf. Sie waren wie zwei Bulldoggen, die sich in der Kehle des jeweils anderen verbissen hatten.
Je mehr er fürchtete, als Torhüter zu versagen, umso größer war die Macht des Schattens geworden, der Lawrence heimsuchte. Angst machte ihn zum Besessenen. Diese Besessenheit war zum Teil auch der Grund, weshalb Ginny vor ihm geflohen war. Sie konnte nicht mehr länger mit der Dunkelheit leben, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Doch seit sie ihn verlassen hatte, war der Schatten um ein Tausendfaches größer geworden, und er spürte, wie er der Spirale hinter den Toren zusetzte und auf ihn wartete.
Schweißtropfen sammelten sich unter seinem Kragen. »Du kannst ihn nicht zahlen«, sagte er.
Baradas Augen, in denen sich das orange Licht der Verandalampen spiegelte, funkelten neugierig. Vorsichtig stellte er das Glas ab. »Eines Tages werde ich es dir einfach so wegnehmen« – dabei schnippte er mit seinen
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