Vaethyr: Die andere Welt
Kaution wurde mir verweigert. Ich hatte schon früher Ärger mit der Polizei und dieses Mal ist jemand gestorben. Außerdem scheint man zu befürchten, ich könnte mich wieder ins Ausland absetzen.«
»Hast du eine Vorstellung davon, wie der Prozess ausgehen wird?«
»Ich rechne mit fünf Jahren für Totschlag«, sagte Sam freiheraus. »Mit etwas Glück komme ich in drei Jahren raus. Du hast gehofft, ich sage lebenslänglich, sei ehrlich. Tut mir leid, wenn ich dich enttäusche.«
»Natürlich nicht.« Kalt breitete sich der verzögert einsetzende Schock in ihr aus. »Das ist doch ungerecht, oder? Du hast bloß deine Familie verteidigt.«
»Weißt du, wenn wir in Amerika wären, dann wäre es völlig in Ordnung gewesen, ihn zu erschießen. Aber nicht hier. Offenbar habe ich unverhältnismäßige Gewalt angewandt. Indem ich den Kerl zurück ins Haus schleifte, als er zu flüchten versuchte, das war keine gute Idee. Auch dass ich ihn, als er am Verbluten war, noch gewürgt habe, war nicht gerade ratsam. Außerdem habe ich schon ein beachtliches Vorstrafenregister.«
Rosie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und sah ihn an. Sam hatte ein schönes, grausames Gesicht wie sein Vater. Seine Augen funkelten eisig wie Edelsteine. Doch er schien sich einen Dreck um irgendwas zu scheren, nicht einmal um sich selbst, und deswegen konnte sie nie warm mit ihm werden. Selbst jetzt war er bemüht, sich so gemein wie möglich zu geben, und sei es nur, um sie zu schockieren.
Ihr war nicht klar, dass ihr Gesicht sie verriet, bis er sagte: »Du hasst mich offenbar wirklich? Es muss eine Qual für dich sein, hierzusitzen und einen auf Unterhaltung zu machen.«
»Ich hatte schon bessere Tage.«
»Ich weiß nicht, warum du dir die Mühe machst. Jon wird dir kein bisschen dankbar sein.«
»Ich mache es nicht der Dankbarkeit wegen«, sagte sie schnippisch.
»Dann willst du wohl die Märtyrerin spielen?« Er lehnte sich seufzend zurück, als wollte er es aufgeben. Dann beugte er sich ruckartig nach vorne. »Vielleicht bin ich ja ein Masochist, Rosie, aber du bedeutest mir alles. Du bist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe, und du weißt es nicht einmal. Du glaubst wohl, es macht mir Spaß, hierzusitzen und von dir verachtet zu werden? Ich bin in dich verliebt.«
»Du bist was ?« Ihr blieb der Mund offen stehen, sie war völlig perplex. »Du machst wohl Witze.«
»Nein, mache ich nicht.« Er rückte näher und sein Gesicht strahlte Ernsthaftigkeit aus, aber er war ein so guter Schauspieler, dass sie ihm das keine Sekunde lang abnahm. »Ich meine das ernst.«
»Du bist nicht in mich verliebt – du kennst mich nicht! Ich habe dich in den letzten vier Jahren nicht mal gesehen! Ich bin nicht hergekommen, um dumme Spielchen zu spielen.«
»Ich spiele nicht.« Er lehnte sich zurück. »Ich wünschte, ich hätte manches anders gemacht, dann säßest du jetzt nicht voller Verachtung vor mir. Doch mir ist die feindselige Rosie lieber als gar keine Rosie – aber das bist nicht du. Es ist nicht dein wahres Ich.«
»Pech! Was anderes bekommst du aber nicht. Du liebst mich nicht, das sind nur Wahnvorstellungen, weil du hier eingesperrt bist.«
»Das wird es wohl sein«, sagte er nüchtern, was sie noch mehr verärgerte.
»›Unverhältnismäßige Gewaltanwendung‹, das ist der Nenner, auf den sich dein Leben bringen lässt! Du fragst dich, warum ich dich nicht mag. Soll ich dir die Gründe auflisten?« Sie strich ihr Haar zurück, um ihren Hals zu entblößen. »Ich habe noch immer die Narbe von unserer ersten Begegnung.«
Er zuckte zusammen. »Das tut mir leid.«
»Du hast mich bestohlen, meinen Bruder verprügelt, mich bedroht, mich angelogen –«
»Wann habe ich dich angelogen?«
»Du sagtest mir, Jon sei schwul! Weiß Gott, was du ihm von mir erzählt hast!«
»Na komm, ein bisschen Gefrotzel –«
»Nein. Ein anständiger Mensch kennt den Unterschied. Du hast Leute drangsaliert und verprügelt und mir den Pitbull auf den Hals gehetzt.«
»Den wen?«
»Diese kleine tätowierte Bikerin, mit der du gegangen bist.«
Seine Stirn kräuselte sich, was ihn halb schuldbewusst, halb amüsiert aussehen ließ. »Du meinst Sue? Du nanntest sie Pitbull? Wie amüsant.«
»O ja, es war verdammt amüsant, von ihr und ihren Freundinnen überfallen zu werden!«
»Rosie«, sagte Sam. »Zwei Dinge. Versuch zu lächeln und mach ein glückliches Gesicht, während du mich ankeifst, sonst werden die Wärter einschreiten. Zweitens:
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