Vaethyr: Die andere Welt
einzige Familienmitglied, das ich hätte sehen wollen und das kriegt seinen Hintern nicht hoch. Aber du kriechst durchs Tal des Todes und steckst deinen Kopf in eine Teergrube – solange du es für ihn tust. Ist klar.«
»Er hatte solche Angst«, entgegnete Rosie in scharfem Ton. »Er hat die Nerven verloren.«
»Er wusste genau, dass du für ihn alles tun würdest. Und er wusste, dass ich mich freuen würde, dich zu sehen. Er ist wirklich ein absoluter Widerling, ein Manipulator durch und durch, ich bin beeindruckt.«
»Er war verzweifelt! Wenn du ihn gesehen hättest –« Rosie atmete seufzend durch ihre Zähne aus. »Toll, jetzt bin ich also dreihundertfünfzig Kilometer gefahren, um mir das eine Stunde lang anzuhören?«
Ein anderer Gefangener beugte sich zwischen sie, so plötzlich und still, dass sie vor Schreck fast aus der Haut gefahren wäre. Er stellte zwei Becher Tee auf den Tisch. Der Schweißgeruch, der seinen Achseln entströmte, als er sich vorbeugte, hätte sie fast umgehauen. Im Hintergrund fand ein ständiger Wechsel von Realität und Illusion statt, Alltägliches verwandelte sich in spinnwebenverhangene Gotik.
»Danke«, flüsterte sie, gab ihm Geld und hielt die Luft an, bis er weg war. Sam grinste sie an.
»Du bist noch nie hier gewesen, nicht wahr?«
»Im Gefängnis?«, sagte sie. Der in Styroporbechern servierte Tee war brühheiß und zuckersüß. »Nein. Meine Familie schafft es, auf der richtigen Seite des Gesetzes zu bleiben.«
»Ich meine nicht das Gefängnis«, sagte er und sein Grinsen bekam einen finsteren Zug. »Dumannios.«
Sie setzte ihren Becher ab und verschüttete Tee dabei. »Wir sind in Dumannios?«
»Die niedrigere, verdorbene Schicht des Schattenreiches. Dort, wo die Albträume, die lebenden Gargoyles, Pseudodämonen und brennenden Kathedralen zu Hause sind. Geschmolzene Lava und Höllenfeuer. Großartig, nicht wahr?«
Rosie ließ ihren Blick über die tropfenden Festungsmauern, die aschfahlen Wächter schweifen. Eigentlich verspürte sie keine richtige Angst, sondern nur heftiges kosmisches Unbehagen. Sie dachte an Gewitterhimmel und sich zusammenbrauende schwarze Wolken, an die sich draußen endlos ausdehnenden Moore, die kilometerlangen elektrischen Zäune, die im Schwefelregen knisterten. Die toten Augen der Wärter, deren Haut von der Hitze aus den Vulkankaminen ausgelaugt wurde. Das über einem Feuermeer bebende Gefängnisgebäude.
»O verdammt«, flüsterte sie.
»Aber wenn man Stonegate kennt, ist die Überraschung nicht mehr so groß.«
»Da hast du wohl recht, aber ich war noch nie darin gefangen so wie hier.«
»Hey, keine Panik.« Sam streckte seinen Arm aus und berührte ihre Hand; Rosie zog sie blitzschnell zurück. »Es heißt, es sei eine Frage der Wahrnehmung. Das Personal, das immer hier ist, sieht es nicht. Ich bin mir sicher, du kannst es genauso verlassen, wie du gekommen bist. Nur die Insassen sitzen hier fest.«
»Wie das?«, fragte sie. »Die anderen sehen menschlich aus. Und wie könnten Menschen auch ein Gefängnis in Dumannios bauen?«
»Oh, gebaut wurde es schon in der wirklichen Welt. Ich gehe davon aus, dass die anderen Insassen und Besucher auf leere Wände und fluoreszierende Streifen und billige Plastiktische schauen. Ich kriege das flüchtig zu sehen. Die tieferen Dimensionen und die ›H. P. Lovecraft‹-Scheußlichkeiten sind den Elfenwesen vorbehalten.«
Ihre Augen wurden groß. »Bist das nur du? Wir, meine ich?«
»Es gibt hier drin auch noch ein paar andere Vaethyr«, sagte er leise. »Und es sind in der Tat wir diejenigen, denen man die schmierigen Verliese zuweist und die von Nachtwächtern Besuch bekommen, die sonst keiner sieht.«
»Ständig?«
»Nein, aber das Unvorhersehbare trägt noch zur Spannung bei.«
»Und warum ist das so?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer, meine Liebe.« Er hielt den Kopf ein wenig schräg und sah sie aus schmalen Augen an. »Ich vermute, dahinter steckt eine Art schattenhafte Spiral-Court-Justiz. Den Alten gefällt es nicht, wenn wir im Irdischen Unruhe stiften, deshalb werden wir doppelt bestraft. In den inneren Reichen gehen Dinge vor sich, von denen wir nicht die leiseste Ahnung haben. Jon hatte absolut recht, Angst zu haben.«
»Ich glaube, er konnte sich nicht vorstellen, dass es so schlimm sein würde.«
»Vielleicht nicht. Die Tore sind verschlossen, das bringt unsere Instinkte durcheinander.«
»Bleibst du bis zum Prozess hier?«
»Wie es aussieht. Freilassung auf
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