Vaethyr: Die andere Welt
Besuchsraum mit seinen weißen Wänden, vergitterten Fenstern und roten Tischplatten.
Nach ein paar weiteren Schritten verzog sich der Raum wieder. Diese Übergänge machten sie ganz schwindelig. Jetzt erinnerte der Raum an eine verstaubte mittelalterliche Kathedrale, gefüllt mit kleinen runden Tischen. Vor jedem Tisch standen zwei Stühle, die an gotische Throne erinnerten, die meisten besetzt von durchsichtigen menschlichen Geistern. Das Stimmengewirr hallte vom hohen Deckengewölbe wider. Als sie nach oben schaute, glaubte sie ein kompliziertes Bogendeckenkonstrukt zu sehen, mit Fledermäusen oder winzigen Dämonen, die in den rauchschwarzen Schatten herumflatterten.
Rosies Mund war aschtrocken. Diese Täuschungen sahen so real und solide aus. Gefangene, Besucher … sie schienen ganz weit weg zu sein, als befänden sie sich hinter einem Gazevorhang.
Sie fand ihren Tisch und setzte sich. Der gotische Stuhl und der Tisch waren ausgebleicht und knackten wie Treibholz. Entlang der Wände waren Alkoven, in denen Gargoyles hausten, eingehüllt in ihre dunklen Lederflügel … nicht als Statuen, sondern als lebende Wächter.
Alles ist gut, mahnte sie sich. Ich bin ein Elfenwesen. Da passieren einem schon mal verrückte Dinge.
Dann sah sie Sam, der sich durch die Menge seinen Weg zu ihr bahnte. Schlank und leichtfüßig kam er in einem grünen Gefängniskittel über seinem grauem T-Shirt und der grauen Jeans auf sie zu. Sein Haar war kurz geschoren, was seine Kopfform betonte. Er schien nur aus Wangenknochen und blendenden blaugrünen Augen zu bestehen. Seine Augen hoben sich wie Leuchtfeuer von den monochromen Wänden ab.
Als er sie sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Er starrte sie an und verriet sein Erstaunen, indem er kurz leise auflachte. Rosie stand auf und wartete, bis er vor ihr stand. »Rosie? Was um Himmels willen tust du denn hier? Wo ist Jon?«
Er starrte sie mit aufgesperrtem Mund an. Sein offenkundiges Erstaunen und seine Freude machten sie verlegen. Er lächelte, seine Zähne waren weiß und wild wie immer. »Ist ja auch egal, wo er ist«, ergänzte er. »Ich kann es nicht glauben.«
Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Ihre Kehle brannte. Sam starrte sie weiterhin an. »Es verblüfft mich, dich hier zu sehen.« Er warf einen kurzen Blick durch den Raum und sah dann an sich hinab. »Obwohl ich niemals gewollt hätte, dass du mich so sehen musst.« Ein Beamter trat warnend auf sie zu. »Oh – setz dich.«
Der Gargoyle verschwand wieder in seinem Alkoven und Rosie und Sam nahmen einander gegenüber Platz. Sie hatte die Sprache verloren und wünschte sich überallhin, nur weg von diesem albtraumhaften Ort. »Sie mögen es nicht, wenn man stehen bleibt«, erklärte Sam. »Keine Berührungen, keine Küsse, keine Umarmungen und auch keine Übergabe von Gegenständen.«
»Nun, dergleichen wird nicht passieren«, sagte sie.
»Nein, natürlich nicht.« Er verschränkte seine Arme und sah sie eindringlich an. Seine Augen waren Laserstrahlen. »Du musst eine schreckliche Fahrt hinter dir haben. Man verteilt hier Tee, allerdings kostet es leider fünfzig Pence die Tasse.«
»Kein Problem. Ein Pfund kann ich mir leisten.«
»Ich habe davon geträumt, dich zu sehen. Aber nie gedacht, dass es in so einer Situation wäre.«
»Ich weiß nicht«, sagte sie knapp. »Es passt zu dir.«
»Danke! Das hätte ich mir denken können.« Er breitete noch immer grinsend seine Hände aus. »Beschimpf mich ruhig, tu dir keinen Zwang an, ich genieße es.«
»Ich werde mein Bestes tun.« Rosie wollte gerecht und hilfsbereit sein, aber das kostete Mühe. Sie hatte in keinerlei Hinsicht Vertrauen in Sam. Sie kannte ihn nicht. Seine verzückte Aufmerksamkeit beunruhigte sie und machte sie wehrlos. Schon nach einem einminütigen Gespräch fielen sie in ihr übliches von Sarkasmus bestimmtes Muster zurück, aber das war vielleicht besser, als den Schein zu wahren. »Bin ich dein erster Besuch?«
»Dad hat einmal vorbeigeschaut. Es war schrecklich. Ich hab ihm gesagt, dass er sich die Mühe sparen kann. Dass du hier bist, fass ich einfach nicht. Wie kommt das? Ich wusste gar nicht, dass dir was an mir liegt.«
»Mir liegt was an deinem Bruder«, sagte sie. »Jon hat mich darum gebeten. Er sagte, er könne das nicht tun, also habe ich ihm den Gefallen getan und bin für ihn hier.«
»Aha.« Das Leuchten verschwand aus Sams Augen und er wandte sich ab. »Dann hätten wir das wenigstens geklärt. Das
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