Valentina 3 - Geheimnisvolle Verführung: Roman (German Edition)
konzentrieren. Gibt es nicht einen Tag, an dem sie sich nicht mit Gedanken an Thomas quält? Sie betrachtet eine farbenfrohe Komposition, ein magisches Kaleidoskop aus Orange, Rot, Grün, Gelb und Blau. Im Mittelpunkt des Bildes steht eine Tänzerin. Fast schüchtern wendet sie sich vom Betrachter ab. Ihre dunklen Haare sind zurückgekämmt, ihre Haut ist blass und zart, ihre vollkommen geformten Brüste entblößt. Sie erinnert Valentina an ihre Großmutter, Maria Rosselli, die, wie Valentina herausgefunden hat, offenbar Tänzerin gewesen ist. In der Familie hat das nie jemand erwähnt. Valentina lernt im Laufe der Jahre, dass jede Familie ihre großen oder kleinen Geheimnisse hat. Da ist zum Beispiel die Sache mit ihrem Vater. Vor einem Jahr hat Valentina herausgefunden, dass Phil Rembrandt, den sie all die Jahre für ihren Vater gehalten hat, gar nicht ihr leiblicher Vater ist. Seither lebt Valentina mit der vagen Information, dass ihr Vater ein tschechischer Cellist namens Karel ist. Sie kennt noch nicht einmal seinen Nachnamen und weiß nicht, wo er heute lebt oder ob er überhaupt noch lebt. Sie wollte ihre Mutter darauf ansprechen, aber nach dem Verlust von Thomas war Valentinas Leben kompliziert genug, und so verzichtete sie darauf. Valentina hat so lange ohne Vater gelebt, warum sollte sie jetzt einen brauchen?
Valentina wendet sich vom Gemälde der Tänzerin ab und durchquert den Raum, der von dem großen ornamentalen Bildnis von Adele Bloch-Bauer beherrscht wird. Doch ein kleineres Porträt von einer Frau mit schwarzem Federhut interessiert Valentina mehr. Die Farben sind ungewöhnlich zurückhaltend für Klimt, es dominieren Grau, Weiß, Braun und Schwarz. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen beugt sich die Frau vor und stützt das Kinn auf die Hand. Sie hat den Blick vom Betrachter abgewandt. Valentina kann nicht sagen, ob sie wütend oder traurig ist. Sie hat die Augen leicht zusammengezogen und wirkt sehr wachsam. Der schwarze Federhut schwebt wie eine riesige schwarze Wolke über ihrem Kopf und beherrscht die gesamte Komposition. Die Feder erinnert Valentina unwillkürlich an die schwarze Feder, mit der Leonardo im Darkroom ihren nackten Körper gestreichelt und gereizt hat. An jenem Tag hatte Thomas sich als Initiator ihrer sexuellen Fantasien zu erkennen gegeben. Er hatte zugegeben, dass er Leonardo und den Fetisch-Club ins Spiel gebracht hatte. Thomas verstand ihre Sehnsucht nach Freiheit. Er wusste, was Valentina wollte, was sie brauchte, was sie befriedigte. Er musste Valentina nicht erst danach fragen.
Valentina wendet sich ab von der Frau mit dem Federhut und betritt einen zweiten Raum. Er ist kleiner und nicht so hell erleuchtet. An den Wänden hängen Zeichnungen von Schiele, Kubin und Klimt. Sofort fühlt Valentina sich zu Klimts erotischen Zeichnungen hingezogen. Sie liest die Titel: Sitzender Akt mit gespreizten Schenkeln, Sitzender Akt im Sessel, Liegender Akt mit Pelz.
Sie sind nicht nur sehr offen, Klimt fängt die intimsten und geheimsten Momente seiner Modelle ein. Valentina erkennt die enge Verbindung zwischen Künstler und Modell, denn auf manchen Bildern streicheln die Frauen sich selbst. Mit geschlossenen Augen verliert sich das Modell in ihrer Ekstase, doch zugleich spreizt sie die Beine, zeigt sich und bietet sich dem Maler dar. Diese Zeichnungen sind deutlich lustvoller als die hageren Geschöpfe auf Schieles Bildern. Sie sind auf eine elegante Weise erotisch. Ob Valentina mit ihren Fotos dieselbe Qualität erreichen kann?
Als sie sich von diesen sinnlichen Bildern abwendet, entdeckt Valentina noch eine weitere Zeichnung von Klimt. Es ist das Porträt eines Kindes, das sich mit Kopf und Schultern über eine Wand beugt und sie direkt ansieht. Es könnte ein Junge oder Mädchen sein, denn das Kind trägt eine in Unordnung geratene Bobfrisur und hat feine Gesichtszüge. Aufgrund des Datums der Zeichnung vermutet Valentina, dass es sich um einen Jungen handelt: 1885, ein frühes Werk von Klimt. Zu jener Zeit trug kein Mädchen so kurze Haare. Das Kind hat einen fragenden, neugierigen Ausdruck in den Augen, zugleich wirkt es wachsam. Die weiblichen Gesichtszüge – diese feine Nase, der zarte Mund, der ernste Blick – erinnern Valentina an jemanden. Als sie die Treppe der Galerie hinuntergeht, fällt ihr ein, an wen: an sie selbst.
Das Café der Neuen Galerie ist wie ein Wiener Kaffeehaus eingerichtet – dunkle holzvertäfelte Wände, Tischplatten aus Marmor und schwarz
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