Valentine
Vater und Tochter bislang kaum Zeit gelassen, einander richtig kennen zu lernen. Das wollten Aliénor und Aldin nun Schritt für Schritt nachholen.
* * *
Valentine beugte sich über das Pergament, das Olivier vor kurzem aus einem bayerischen Kloster entwendet hatte. Olivier war derjenige unter ihnen, der sich oft sehr lange und weit entfernt aufhielt. Aber wenn er zur Berichterstattung ins Château zurückkehrte, hatte er stets interessante Neuigkeiten oder wertvolle Schriften bei sich. Angesichts der Lage war Diebstahl ein zu vernachlässigendes Delikt.
Das Dokument befand sich in vergleichsweise gutem Zustand. Einer der Texte ähnelte dem des Sehers Nostradame, den Valentine vor kurzem mit Mühe restauriert und entziffert hatte. Allerdings wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich zwischen den sichtbaren Zeilen andere, verborgene Texte befanden. Es gab dafür keine Erklärung, nur eine Ahnung, vielleicht war es sogar nur Wunschdenken.
»Was muss ich tun, damit …« Seine Stimme ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Maurice hatte es tatsächlich geschafft , sie zu beruhigen , und ihr damit aus dem unheimlichen Hohlraum geholfen. Gleichzeitig hatte sein Anblick sie erregt , und genau dieses sinnliche Kribbeln, das sie in seiner Nähe gespürt hatte, flammte bei der Erinnerung an ihn wieder auf.
Arbeit würde sie ablenken. Vorsichtig betupfte Valentine mit einem Wattebausch, den sie zuvor mit speziellen Chemikalien benetzt hatt e, das vor ihr liegende Pergament. Es dauerte allerdings nicht lange , und ihre Gedanken schweiften wieder ab.
Es wäre nicht allzu riskant, den Fremden noch einmal zu treffen. Sie war schneller , und sie war eine ausgebildete Kämpferin. Außerdem hatte er keine Ahnung, was sie war. Ihn einfach wiedersehen, um mehr über die Menschen der Jetztzeit und ihre Denkweise zu erfahren, konnte nicht falsch sein.
Endlich. Die vierte Tinktur zeigte Wirkung. Blasse rotbraune Schriftzeichen traten zwischen den Zeilen hervor. Tonlos formten Valentines Lippen die Worte. Auf einem Block, der immer in Reichweite lag, machte sie sich Notizen :
Nicht der, der sich wichtig macht,
Nicht der, der sich klein macht,
Sucht von jedem Geschlecht und jeder Art.
Jung und A lt, Weib und Mann,
ein jeder kann geeignet sein.
War das etwa alles, dieses nichtssagende Geschwafel? Ein verärgertes Knurren entwich Valentines Kehle , und sie fühlte, wie ihre Fangzähne sich ein wenig hervorschoben, wie immer wenn sie wütend wurde. Dieser Text war genauso wenig hilfreich wie Hunderte andere, die sie bisher entziffert hatten.
Der Hüter erwartete mit wachsender Ungeduld genauere Ergebnisse von den Suchern. Es war eine Ehre, von ihm zu einer solchen Aufgabe berufen zu werden, aber dieser Ehre gerecht zu werden grenzte an ein Kunststück. Sie selbst hatte den heiligen Vampir, der Frédéric, Olivier, Emanuele und sie selbst als Sucher auserwählt hatte, schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Meistens berief er Frédéric zur Berichterstattung in den Tempel, um zu hören, wie weit sie mit der Erforschung der Prophezeiung und der Suche nach den Wesen seien , die die Erfüllung der Prophezeiung verhindern sollten.
Valentine musste sich zwingen, den Wattebausch mäßig getränkt und ohne zu starken Druck zwischen den nächsten Zeilen entlang zu ziehen, während der zuvor sichtbar gemachte Text allmählich wieder verblasste und verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Sie hatte viel Geduld im Umgang mit den empfindlichen Dokumenten, aber in Nächten wie dieser wurde sie hart auf die Probe gestellt. Die nächsten Worte erschienen schemenhaft :
Vereint euch unter dem Mond,
schwört Einigkeit im Zeichen des Pentagramms,
es befindet si ch …
Eine Hand legte sich auf ihre Hand, die den Wattebausch hielt, ein Arm um ihre Schulter, und eine Stimme flüsterte mit warmem Atem an ihrem Ohr: »Ein Kuss, Señorita, por favor.«
Die Erinnerung an ihren schlimmsten Al b traum war sofort präsent , und für den Bruchteil einer Sekunde kämpfte Valentine gegen die Lähmung an, die sie an den Stuhl fesselte. Dann gab sie dem Stuhl einen Schubs nach hinten und stieß Emanuele mit beiden Händen gegen seine Brust von sich.
»Verdammt, del Castello! Sind Sie vollkommen übergeschnappt?«
Ihr Herz raste. Dieser verdammte Spanier erschien immer zur unpassenden Zeit und war absolut resistent gegen ihre Weigerung, sich für seine Liebesschwüre zu interessieren.
Das Pergament! Schnell beugte sie sich darüber
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