Valentine
Knirschen. Instinktiv machte er einen Satz nach vorne, um den Splittern auszuweichen. Ein weiteres Mal bebte der Gehweg , und in den umliegenden Häusern ging en unter verstörten Rufen d ie Licht er an.
Kapitel 5
Die alten Bücher und Pergamentrollen, die rings um in den Regalen und Schränken lagerten, stellten keine Bedrohung dar, sondern waren vertraute Bekannte. Schon als kleines Mädchen hatte Valentine gerne in den Büchern gestöbert und sich bald zur Leseratte entwickelt. Mittlerweile waren unzählige antiquarische und wertvolle Schriften hinzugekommen. Ein unverwechselbarer Duft nach Leder und altem Papier lag in der Luft, vermischt mit verschiedenen Kräutern, die da und dort in kleine Gefäße gefüllt waren und nicht nur die Luft erfrischten, sondern auch das Ungeziefer fernhielten.
Valentine ließ den Raum wie ein Mantra auf sich wirken und ihre aufgewühlte Seele beruhigen. Ihr war, als hörte sie die Texte aus den alten Schriften in den Raum hineinwispern, ein unverständliches Durcheinander, ein leises Konzert geheimnisvoller Informationen in verschiedenen Sprachen, die nur darauf warteten, von ihr interpretiert zu werden.
Unzählige Jahre hatte sie hier verbracht und versucht, das Unglück zu verarbeiten, das über si e hereingestürzt war. Vergebens . Nach all dieser Zeit bedeutete die heutige Nacht einen Meilenstein. Zum ersten Mal hatte sie das Schloss verlassen und war allein unterwegs gewesen.
Dabei hatte sie im Grunde genommen alles falsch gemacht. Niemand hatte gewusst, wohin sie gegangen war . Niemand hätte nach ihr suchen können , wenn sie nicht heimgekehrt wäre . Nicht weniger unverzeihlich war, das Gedächtnis des Menschen nicht gelöscht zu haben, damit er ihre Begegnung vergaß. Aber dazu hätte sie seinen Kopf berühren müssen , und sie wusste, dass sie sich das nicht traute. Nun war es dafür sowieso zu spät. Andererseits, was hatte er denn gesehen, was wusste er schon? Nichts, rein gar nichts. Er kannte nicht einmal ihren vollständigen Namen. Ebenso wenig wie sie den seinen, was gleichermaßen unwichtig war und sie trotzdem berührte.
Valentine schaltete die Lampen ein , und die Bibliothek wurde taghell ausgeleuchtet. Sie verspürte ein stilles Bedauern, dass diese Begegnung einmalig bleiben würde. Vielleicht wäre diese Gelegenheit, einen modernen Menschen kennen zu lernen , noch interessant verlaufen. Immerhin hatte er sie geduldig von ihrer Panik befreit. Und überhaupt hatte er sich wie ein Gentleman verhalten . Er war sogar auf ihren Trick eingegangen und hatte sich umgedreht, damit sie unbeobachtet verschwinden konnte.
Er ist ein Mensch! Und er ist ein Mann. Das war doppelt schlimm.
»Ach , hier bist du!« Frédérics Stimme riss Valentine aus ihren Gedanken. »Warum warst du nicht beim Diner? Wir haben dich vermisst.«
Für einen Moment war Valentine versucht, ihrem Bruder von ihrem Ausflug und ihrer Begegnung zu erzählen, dann erwiderte sie so gelassen wie möglich: »Ich hatte keinen Appetit.«
Dabei war das Diner zu Sonnenuntergang mehr als nur ein Essen. Es war ein Ritual. Alle aßen gemeinsam im großen Speisezimmer, ehe jede r seiner Aufgabe nachging. Man vergewisserte sich, dass es jedem gutging , und tauschte aktuelle Neuigkeiten aus. Dabei wurde Wert auf Etikette gelegt, ein Relikt aus alten Zeiten.
»Alles in Ordnung?« Frédéric musterte Valentine besorgt.
»Ja sicher«, erwiderte sie und rang sich ein Lächeln ab .
»Okay. Aliénor und ich treffen uns nachher mit Aldin«, sagte er im Hinausgehen.
»Viel Spaß. Bis dann.«
Bestimmt freute Aliénor sich schon darauf , Aldin , ihren Elfenv ater , wiederzusehen. Valentine hatte sich einige Male mit ihr darüber unterhalten, welche Ereignisse in kurzer Zeit Aliénors Leben verändert hatten. Eben noch Studentin der Rechtswissenschaften, dann plötzlich infolge ihrer schlummernden Gene zur Elfe gewandelt, und im übrigen Adoptivkind eines Vampirjägers. Verständlich, dass Aliénor sich auf die Suche nach ihrem wahren Vater gemacht hatte.
Auch für Frédéric war dies eine schwere Zeit gewesen. Bis über beide Ohren in Aliénor verliebt, hatte er sie dennoch ziehen lassen und war ihr erst gefolgt, als er sich bewusst wurde, ohne sie nicht mehr leben zu können . Dabei ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass Aliénor unter dem Druck stand, vom Elfenkönig zwangsverheiratet zu werden.
Ihre und Frédérics Flucht aus dem Elfenland sowie die dort ausgebrochene Revolution hatte n
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