Valentine
und warf einen Blick darauf. Verflixt, die Buchstaben begannen schon wieder zu verblassen. Hektisch griff Valentine nach ihrem Stift, um den Text aufzuschreiben, aber Emanuele war schneller und hielt sie fest, umfing mit seiner anderen Hand ihre Taille und zog sie fest an sich, um sie in einem zweiten Versuch zu küssen.
Valentine bog ihren Kopf zurück und wehrte sich mit aller Kraft. Sie war Meisterin in diversen Kampftechniken und trotz ihrer schlanken Gestalt alles andere als schwächlich. Frédéric hatte mit ihr außerdem auf ihren Wunsch hin trainiert, sich gegen plötzliches Umarmen oder Festhalten auf jede erdenkliche Weise zu wehren. Es zeigte Wirkung. Trotzdem erstaunte sie es selbst ein wenig, wie schnell es ihr gelang, sich Emanueles Griff zu entwinden, obwohl er ihn kaum lockerte. Sobald sie sich befreit hatte, dematerialisierte sie sich sofort vor die Tür zur Bibliothek , aber fast ebenso schnell folgte er ihr.
Sein lautes Lachen dröhnte durch den Flur. »So mag ich es, mi amor. Wusstet Ihr, mein Wildkätzchen, dass ich ein exzellenter Jäger bin?«
Fauchend, mit gebleckten Fangzähnen und geballten Fäusten, wandte sie sich ihm entgegen. Diesmal musste sie sich ihm stellen und klare Fronten schaffen, damit er sie endlich in Ruhe ließ.
»Lassen Sie mich raten – Sie verlieren nicht gerne. Aber dies ist kein Spiel, del Castello! Ich bin nicht an Ihnen interessiert, akzeptieren Sie das endlich!«
»Und wenn nicht?«
Mit gelangweiltem Gesichtsausdruck lehnte Emanuele mit dem Rücken an der Wand und strich seinen dünnen Schnurrbart mit einer exaltierten Geste nach links und rechts in Form, zwirbelte die Spitzen, die Salvador Dal í gefallen hätten, und sah sie durchdringend mit seinen dunklen Augen an. »Eine schöne Frau wie Ihr braucht einen Cavaliere, der sie beschützt.« Das tiefe Timbre seiner Stimme würde gewiss manche Frau schwach werden lassen.
Sekundenschnell stand Valentine direkt vor ihm und presste ihm das kleine Messer, das sie stets bei sich trug, gegen seinen Kehlkopf. »Noch ein Wort , und es ist das letzte, das je über Ihre Lippen gekommen ist« , zischte sie.
Lächelnd streckte der Spanier seine Arme seitlich aus, als wolle er sich ergeben. »Ihr seid noch viel schöner, wenn Ihr so wütend und leidenschaftlich seid. So viel Temperament, so viel Feuer, S chönste aller Frauen.«
Mit einem Fluch auf den Lippen materialisierte Valentine sich an den Tisch in der Bibliothek zurück. Ihr Herz klopfte wie verrückt und wollte sich nur langsam beruhigen. Immerhin, sie hatte es geschafft, nicht vor Angst wie gelähmt in seinem Arm zu erstarren, als er sie gepackt hatte. Das war mehr, als sie sich selbst zugetraut h a tte . D as zweite Erfolgserlebnis in dieser Nacht.
Zu ihrem Bedauern war der sichtbar gemachte Text inzwischen wieder verblasst , und auch ein nochmaliges Benetzen brachte ihn nicht mehr hervor. Die chemische Struktur war auf für alle Zeiten zerstört. Der verdammte Spanier hatte keine Ahnung, wie viel Schaden er anrichtete, in jeglicher Hinsicht.
Kapitel 6
Irgendwo in der Ferne schlug eine Türglocke. Maurice hob genervt den Kopf und entschied dann, einfach liegen zu bleiben. Es klingelte erneut, nur verstummte der Lärm diesmal nicht, sondern wiederholte sich mit unerträglicher Penetranz, als wäre der Knopf hängen geblieben. Widerwillig erhob er sich und polterte mit steifen Beinen, nur mit seiner Unterhose bekleidet, die Treppe hinunter, um nachzusehen.
»Na endlich.« Mit einer lässigen Handbewegung zog Ryad seine Sonnenbrille ein Stück herab und musterte sein Gegenüber mit hochgezogener Augenbraue einmal von oben bis unten. »Zieh dich an, Langschläfer. Ich warte im Auto auf dich.«
Wie wär’s mit einem Guten Morgen ? Maurice hatte es nicht eilig. Ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, dass es bereits weit nach Mittag war. Nachdem Valentine ihn hatte stehen lassen, hatte ein kurzer Erdstoß die Innenstadt erschüttert und einige Bürger auf die Straße getrieben. Es war nicht das erste Mal in diesem Jahr, dass die Erde bebte. Der öffentliche Nahverkehr war vorsichtshalber eingestellt worden, bis man sicher sein konnte , dass der Personentransport gefahrlos möglich war. Er selbst war kurz entschlossen zu Fuß nach Hause gelaufen, um dabei über alles nachzudenken , was er erlebt hatte . Es war kein Wunder, dass er nicht ausgeschlafen war.
»Dauert das bei dir immer so lang?«, kritisierte Ryad, als Maurice frisch geduscht und mit nassen Haaren
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