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Valley - Tal der Wächter

Titel: Valley - Tal der Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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erkennen, über das er auf den Felsen geklettert war, darunter wogte es von schemenhaften Gestalten. Außer dem Kratzen und Scharren hörte man jetzt ein sonderbares Schlucken und Zischen, das an- und abschwoll, manchmal ganz verstummte, dann aber wieder anfing. Es waren keine Worte, sondern eher der vorwurfsvolle Nachhall längst verklungener Sätze, ein Flüstern wie aus weiter Ferne.
    Dann krabbelte jemand auf allen vieren an der Felswand hinauf, schob sich mit ruckartigen Bewegungen wie eine Spinne empor. Sein Kopf tauchte aus dem Nebel auf – Hal erkannte lockiges graues Haar, einen langen, sehnigen Hals... Viel mehr konnte er nicht sehen, aber er spürte, dass das Geschöpf zu ihm hochspähte.
    »Du freust dich wohl gar nicht, deinen armen alten Onkel wiederzusehen!«
    Hal standen die Haare zu Berge. Seine Lippen waren wie ausgetrocknet. Er zog sie keuchend zurück, wobei er Zähne und Zahnfleisch entblößte.
    »Tja, du hast gut grinsen, Kleiner, während ich mich hier abplagen muss. Klettern ist gar nicht so leicht, wenn man so steif ist wie ich.Wieso kommst du nicht einfach zu mir herunter?«
    Die Angst schnürte Hal so die Kehle zu, dass er kaum ein Wort herausbrachte. »Du bist nicht der, nach dem du aussiehst«, flüsterte er heiser.
    »Ja, wer soll ich denn sonst sein! Und du bist ein unverschämter Bengel, der endlich für seine Ungezogenheit büßen muss. Weißt du nicht mehr, wie oft ich dir eingebläut habe, dass man auf gar keinen Fall hinter die Gräber gehen darf? Trotzdem treffe ich dich hier, unfolgsam und unbelehrbar bis zum letzten Atemzug. Ich verzeihe dir aber, wenn wir wieder beisammen sind. Nur wenn ich wirklich ganz bis zu dir raufklettern muss, Hal, dauert das noch ewig.«
    »Du lügst!«, stieß Hal mühsam hervor. »Das ist alles Troldzauber... ein Trugbild, das mich in den Wahnsinn treiben soll.«
    »Ach, Kleiner, was weißt du schon von Trolden? Erkennst du meine Stimme denn nicht? Bin ich nicht dein Onkel?«
    »Nein! Du hörst dich ganz anders an.«
    »Das liegt nur am Wind. Außerdem sind meine Zunge und mein Gaumen schon halb verwest, darum nuschle ich ein bisschen.«
    »Pfff! Was ist denn das für eine alberne Ausrede! Das kann ja jeder behaupten.«
    »Hal, mein Kleiner, du weißt genau, dass ich es bin!«
    »Nun, Onkel Brodir... wenn du es tatsächlich bist … dann erinnere dich doch bitte, dass wir dich vor einem halben Jahr ordnungsgemäß begraben haben! Alles nach Vorschrift. Du... du hattest ein bewegtes, erfülltes Leben und... und wir hatten dich alle gern. Warum genießt du nicht die wohlverdiente Ruhe, statt in einem zerschlissenen Hemd und barfuß durch die kalten Hügel zu streunen...?« Hal stockte. Das Scheusal kletterte unbeirrt weiter. Schon erkannte man ein knochiges Knie, einen knorpeligen Ellbogen. Dann bröckelte das Gestein und die Gestalt rutschte wieder ein Stück zurück.
    Ein gedämpfter Wutschrei. »Da siehst du, was du mir antust, Hal! Jedes Mal wenn ich runterrutsche, büße ich mehr Fleischfetzen ein!« Das Scheusal verharrte einen Augenblick an Ort und Stelle, und Hal ahnte, dass es wieder zu ihm heraufschaute. »Tief und fest schlief ich in meinem kleinen Haus, geschützt vor dem schrecklichen, leeren Himmel, und jetzt muss ich noch einmal hinaus... Deinetwegen, Hal, nur deinetwegen!« Ein bestialisches, röchelndes Knurren ertönte. »Und ich muss gestehen, dass mir das ganz und gar nicht passt.«
    »Aber Onkel! Unser Haus wurde überfallen, mir blieb nichts anderes übrig! Ich habe den Feind hier hochgelockt, um ihn den Trolden zum Fraß vorzuwerfen, und...«
    Gereiztes Zähneklappern. »Was redest du da eigentlich die ganze Zeit? Hier gibt’s keine Trolde.«
    »Wir dachten bloß...«
    Wir... Aud! Die hatte er ja ganz vergessen! Sie verteidigte doch die andere Seite des Felsens! Hal warf einen Blick über die Schulter und war heilfroh, als er seine Freundin unverändert an der Felskante kauern und mit dem Schwert in die Tiefe stoßen sah.
    Als er sich wieder umdrehte, musste er zu seiner Verblüffung feststellen, dass die weiß gekleidete Gestalt unbemerkt bis fast auf die halbe Höhe des Felsens geklettert war. Das graue Haar der Leiche flatterte im Wind, die leeren Augenhöhlen starrten ihn an und unter dem zerzausten, schütteren Bart klaffte schwarz der zahnbewehrte Mund.
    Hal lief es eiskalt den Rücken herunter. »Du tückisches Scheusal!« Er hielt das Messer über die Felskante und ließ die Schneide aufblitzen. Das Ungeheuer hielt an.

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