Valley - Tal der Wächter
»Egal ob Geist oder Trugbild«, verkündete Hal entschlossen, »wenn du noch näher kommst, hacke ich dich in Stücke. Mal sehen, wo du danach hinwillst – nach oben, nach unten oder sonst wohin. Na, wie findest du das?«
Ein abgrundtiefes Ächzen drang aus dem offenen Mund. »Wie kannst du nur so grausam sein, Neffe! Willst du, dass dich ein Fremder erwürgt statt deines dich liebenden Onkels? Lass das alberne Ding fallen.«
»Noch einen Fingerbreit näher und dein Kopf kullert dort unten ins Multbeerengestrüpp.«
»Weißt du denn nicht mehr, wie ich dich schon als Säugling in den Armen gewiegt habe?«
»Ich hacke alles ab, was du über diese Kante streckst.«
»Ich habe dich von meinem Bier trinken lassen, ich habe dir meine Freundschaft geschenkt...«
»Warum willst du mich dann jetzt umbringen?«
»Dafür kann ich nichts«, raunte das Wesen. »Mach mir keine Vorwürfe deswegen und auch nicht deinen anderen Vorfahren, die dich am Fuß dieses Felsen mit offenen Armen erwarten.Wir haben es uns nicht ausgesucht.Wir sind nicht freiwillig hier. Wenn es nach uns ginge, würden wir lieber weiterschlafen.« Es klang bekümmert. »Du kannst dafür sorgen, dass wir weiterschlafen dürfen, Hal Svensson. Du kannst uns helfen. Komm herunter, damit wir dich bestrafen, wie es unsere Pflicht ist. Dann lässt er uns wieder schlafen – und dich und das Mädchen auch. Ich nehme dich mit in mein Grab.«
Hal wurde übel. Er zitterte so, dass er beinahe das Messer fallen ließ. »Danke für das freundliche Angebot, aber... ich muss es leider ablehnen.«
»Wenn du dich weigerst«, es klang ärgerlich, »dann kommt er dich holen. Und das will doch nun wirklich keiner von uns.«
Todesangst packte Hal. Er sprang auf und stellte sich auf den höchsten Punkt des Felsens, hielt nach allen Seiten Ausschau, über das Tal und bis dahinter ins Gebirge. »Ich weiß nicht, von wem du sprichst«, stieß er hervor. »Ich weiß nicht, wen du meinst.«
»Er ruft dich schon«, lautete die Antwort. »Hörst du ihn denn nicht?«
»Ich höre nichts.«
Ein Seufzer. »Also ich höre ihn ganz deutlich.«
Da glitt eine Wolke über den Mond und Hal sah nichts mehr. Unter sich hörte er es scharren, und als er wieder etwas sehen konnte, spähte er sofort in die Tiefe.
»Du bist höher geklettert, gib’s zu!«
»Gar nicht.«
»Doch. Du hältst dich woanders fest.«
»Mir wurden bloß die Arme lahm, da hab ich’s mir ein bisschen bequem gemacht.«
»Höchste Zeit, dass ich es dir noch bequemer mache.« Hal beugte sich mit erhobenem Messer vor.
Da ertönte hinter ihm ein Schrei, ein Hilferuf: »Hal, ich kann sie nicht...« Jemand packte ihn am Handgelenk. Es war Aud, die von der Felskante zurückwich. Ausgestreckte, ungeduldig umhertastende Hände und grinsende Schädel reckten sich darüber in die Höhe. Der Mondschein fiel auf wehende graue Haarsträhnen, Schädeldecken, Leichentücher, zerschlissene Lumpen und blanke Knochen. Lange, klauenartige Nägel krallten sich ins Gestein, Zähne schlugen klappernd aufeinander, es flüsterte aus dürren Kehlen.
Ein jäher Satz, ein weißes Geflatter und Brodir war die Felswand herauf, duckte sich unter Hals Messer weg und blieb gerade außerhalb seiner Reichweite stehen. Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Tja, Neffe, es macht mir auch keinen Spaß, aber es hilft alles nichts, es muss getan werden.«
Aud griff nach Hals Hand und sie gingen Schritt für Schritt rückwärts. Die Felskuppe war inzwischen von drei Seiten umzingelt. Die Bewohner der Hügelgräber rückten immer näher.
Aud hieb mit dem Schwert um sich, Hal stieß mit dem Messer nach einer vorschnellenden Knochenhand.
»Ihr schlagt euch tapfer«, kommentierte Brodir ihre Bemühungen, »aber in Wirklichkeit seid ihr schwach und verängstigt. Sieh nur, wie dein Schwert zittert, Mädchen. Wie eine Pusteblume im Wind. Und du klapperst mit den Zähnen, Hal, als wollten sie dir gleich ausfallen.«
»Immerhin sind wir noch am Leben«, keuchte Hal. »Was man von euch nicht behaupten kann.«
»Was für eine garstige Bemerkung«, antwortete Brodir, »und deiner unwürdig, Hal. Begreifst du denn nicht, dass du dir das alles selbst zuzuschreiben hast? Warum hast du seine Gesetze missachtet? Warum hast du die Grenze übertreten, und zwar nicht nur ein Mal, sondern gleich zwei Mal? Und vor allem:Warum hast du ihm seinen wertvollsten Besitz gestohlen?«
Hal entgegnete so heiser, dass er kaum zu verstehen war: »Ich weiß nicht, wovon du
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