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Valley - Tal der Wächter

Titel: Valley - Tal der Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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des Unbekannten überwältigte sie.
    Auch Onkel Brodir wirkte eingeschüchtert. Er sah aus, als wollte er am liebsten unauffällig verschwinden, traute sich aber nicht. Dann machte er mit einem Mal den Mund auf.
    »Hörst du ihn denn nicht?«, krächzte er. »Er spricht mit dir.«
    Hal schüttelte den Kopf und erwiderte nahezu tonlos: »Ich höre nichts.«
    »Er befiehlt dir, dich vor ihm zu verneigen!«
    Hal schüttelte erneut den Kopf, bekam aber kein Wort mehr heraus. Die Beine drohten ihm zu versagen. Er spürte den Drang, sich einfach auf die Knie fallen zu lassen …
    »Er befiehlt dir...«
    Auds Antwort kam mit leiser, aber fester Stimme: »Wisse, dass wir den Häusern Svens und Arnes entstammen und von edlem, ehrwürdigem Geblüt sind. Wir verneigen uns vor keinem namenlosen Bewohner eines Hügelgrabs.« Während sie sprach, zog sie Hal an sich. Ein bisschen von ihrer Zuversicht ging auf ihn über und er riss sich wieder zusammen.
    Die riesenhafte Gestalt stand reglos da, silbriges Mondlicht umspielte ihren Helm. »Er spricht mit dir , Hal Svensson, nicht mit ihr «, sagte Brodir. »Warum kniest du nicht nieder? Du weißt, wer er ist.«
    Hal wollte noch einmal den Kopf schütteln, aber er hatte nicht die Kraft dazu.
    Das Licht wurde wieder schwächer, man konnte kaum noch etwas sehen, nur die Rüstung blinkte hier und da matt. »Du weißt, wie er heißt, Hal Svensson«, wiederholte Brodir bedeutungsvoll. »Er ist Felsen und Bäume, Felder und Bäche. Er ist die Steine eures Hofes, das Holz des Bettes, in dem du schläfst. Er ist dein Fleisch und Blut. Er ist der Ahn deines Hauses, dein Vater und der aller deiner Verwandten, und er kann es gar nicht leiden, wenn man sich ihm widersetzt!«
    Bis dahin war Hals Furcht übermächtig gewesen, doch jetzt spürte er einen Anflug von Zorn. »Und warum sagt er mir das nicht selbst? Warum zeigt er mir sein Gesicht nicht?«
    Brodir jaulte auf: »Zweifle nicht an ihm! Er ist fürchterlich!«
    »Das mag sein«, erwiderte Hal. »Aber in einem Punkt irrst du dich nun wirklich. Mein Vater heißt Arnkel und liegt unten im Tal in seinem Bett. Das Geschöpf hier ist nicht mit mir verwandt.«
    Metall schepperte, Kettenglieder klirrten, die stumme Gestalt trat vor.
    »Arnkel?«, keifte Brodir. »Arnkel, dieser Schwächling, der nach der Pfeife seiner Frau tanzt? Arnkel, der sterben wird, ohne je einen Mann erschlagen zu haben? Er wird nicht zu uns gehören, wenn man ihn auf den Hügel bringt.«
    »Du sprichst nicht wie mein Onkel!«, antwortete Hal zornig. »Der liebte seinen Bruder nämlich.« Er schaute in die Finsternis vor sich. »Was bist du für ein Geschöpf, dass du einen Toten für dich sprechen lässt? Ich wiederhole: Zeig mir dein Gesicht!«
    Als er das sagte, trat der Mond hinter den Wolken hervor und warf seinen grellen Schein auf die stumme Gestalt. Hal und Aud wichen schreiend zurück.
    Die Gestalt war in silbernes Licht getaucht. Ihre Rüstung schimmerte prächtig, mitleidlos – der mit einem Federbusch und kunstvollen Gravuren versehene Helm, das lange, an das makellose Schuppenkleid eines Fisches erinnernde, dicht geschmiedete Kettenhemd. So herrlich und schmerzhaft schön war der Anblick, dass sie ganz geblendet waren.
    Unter der Rüstung jedoch waren nichts als Verwesung und Verfall. In dem Helm stak ein morscher, zahnlückiger Schädel mit herabhängendem Unterkiefer, in der schimmernden Rüstung gähnte Leere. Rippen ragten aus dem Kettenhemd, an seinem Saum wehte zerfetzter Stoff über knorpelige Kniescheiben und vergilbte Schenkelknochen … Die silbernen Beinschienen hingen lose vor den kahlen Schienbeinen, die Füße in den verschimmelten Stiefeln waren nur noch Häufchen winziger Knöchlein.
    Brodir heulte auf: »Der große Sven ist unser Ahn! Wir sind seine Kinder, und wenn wir tot sind, müssen wir ihm gehorchen!«
    Hal schüttelte energisch den Kopf. Er hatte alle Angst vergessen. Eiskalter Zorn war an ihre Stelle getreten, Zorn darüber, dass er und Aud gleich sterben sollten, Zorn über den erbärmlichen Zustand seines Onkels Brodir, der gegen seinen Willen sein Grab hatte verlassen müssen, und unterschwellig, aber umso erbitterter Zorn darüber, dass die Träume vom Heldentum, in denen er als Kind geschwelgt hatte, sich in Luft aufgelöst hatten. Alle seine früheren Vorstellungen waren so trügerisch und hohl wie die prächtige Rüstung vor ihm.Wo waren sie bloß hergekommen? Und wohin führten sie zu guter Letzt? Die Antwort war dieselbe. Von

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