Valley - Tal der Wächter
Verbrechen«, erwiderte Hal verdrossen.
»Stimmt. Bei euch Hochländern auf euren armseligen Höfen gehört das zum Alltag.« Der Sitzende beugte sich so weit vor, bis sein Gesicht ganz im Schatten lag. »Damals hatten Hord und ich eine jüngere Schwester, Thora hieß sie. Da sie eine Hakonsson und obendrein sehr schön war, hätte sie jeden heiraten können. Viele Männer versuchten ihr Glück bei ihr, auch dein Onkel Brodir. Aber Thora wies sie alle ab. Damit wollte sich dein Onkel nicht abfinden. Bei seinen Besuchen ließ er Thora einfach nicht in Ruhe und Hord und ich mussten etliche Male dazwischengehen und die aufgebrachten Gemüter beruhigen. Die arme Thora machte sich nichts aus Brodir – außerdem liebte sie einen anderen.« Olaf krümmte sich hustend, die Hände zwischen den Knien, den Blick auf den Boden gerichtet. »Sie liebte nämlich einen jungen Mann aus unserer eigenen Familie, einen gut aussehenden Zimmermann mit goldblonden Haaren. Ich sehe ihn heute noch vor mir, auch wenn mir sein Name entfallen ist. Nun war es so, kleiner Hal, dass uns dein Onkel einen geschäftlichen Besuch abstattete, als wir gerade ein Fest feierten. Dabei kam ihm die Sache mit Thoras Zimmermann zu Ohren. Das gefiel ihm gar nicht und kränkte ihn in seinem Stolz. Soll ich dir erzählen, was er, betrunken, wie er war, daraufhin tat?«
»Du lügst«, sagte Hal leise.
»Er ging auf den jungen Mann zu, der sich gerade mit einem Freund unterhielt, und schlug ihn hinterrücks nieder. Was geschah? Der Bursche knallte mit dem Kopf auf die Kaminplatte und sein Schädel zersplitterte wie ein Schneckenhaus. Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Er war fast auf der Stelle tot. Aber als wir uns nach seinem Mörder umsahen, war dein Onkel verschwunden.«
»Alles Lüge!«, flüsterte Hal.
»Von wegen. Frag deine Mutter.«
Eine Pause trat ein, dann sprach Olaf weiter. »In seiner unendlichen Weisheit und geleitet von seinem Wunsch nach Frieden und Eintracht, wollte der Rat den Sohn eines Familienoberhauptes nicht aufhängen lassen. Die Ratsmitglieder stuften seine Tat also nicht als vorsätzlichen Mord, sondern als Totschlag ein. Nur deshalb kam dein Onkel mit dem Leben davon.«
»Wenn das stimmt«, erwiderte Hal mit belegter Stimme, »wenn das stimmt, dann war es eine schlimme Tat, aber es war genauso ein Versehen. Ein Versehen«, wiederholte er, »und man hat euch mit viel Land dafür entschädigt. Und trotz dieser Entschädigung hast du Jahre später meinen Onkel umgebracht, nur um jemanden zu rächen, dessen Name dir nicht mal mehr einfällt.«
»Nicht ihn habe ich gerächt«, erwiderte Olaf flüsternd, »sondern meine Schwester. Die arme Thora, die ihren Zimmermann so liebte, dass sie sich noch am selben Abend aufgehängt hat. Dein Onkel hatte meine Schwester auf dem Gewissen. Er hatte den Tod verdient.« Olaf hielt den Kopf gesenkt, seine Stimme trug kaum bis an Hals brennende Ohren.
Eine ganze Weile sagte keiner von beiden etwas. Dann ergriff Hal wieder das Wort. »Ihr hättet sie den Zimmermann sowieso nicht heiraten lassen.«
Olaf schaute ihn an.
»Einen gewöhnlichen Handwerker? Wohl kaum. Man hätte sie mit dem Sohn irgendeines anderen Hauses verkuppelt, stimmt’s?«
Olaf zuckte flüchtig die Schultern.
»Na klar«, fuhr Hal fort. »Es hätte ihr so oder so das Herz gebrochen.« Er ging langsam rückwärts zur Tür. »Trotzdem danke für die Geschichte. Ich habe mich schon gewundert, warum ich es nicht fertiggebracht habe, dich umzubringen. Ich glaube, jetzt kenne ich den Grund. Es sind schon zu viele Menschen sinnlos und unehrenhaft gestorben. Darum werde ich, wenn dich das Fieber nicht umbringt, bei der Verhandlung gegen dich aussagen, damit euer Haus das Gesicht und möglichst viel Land verliert. Und damit soll die Sache ein Ende haben. Bis dann.« Er wandte sich ab, aber es war so dunkel, dass er nicht richtig erkennen konnte, wo die Tür war.
»Du bist ein ulkiges Bürschchen«, flüsterte Olaf hinter ihm belustigt. »Hast du nicht dran gedacht, dass der ganze Rechtsstreit hinfällig ist, wenn du gar nicht erst aussagst? Da werde ich dich wohl kaum laufen lassen!«
Hal tappte weiter, die Hände tastend ausgestreckt. »Das klingt einleuchtend, Olaf, aber du bist ein kranker alter Mann.«
»Ach, weißt du – so schlecht geht es mir eigentlich gar nicht.«
Hal hörte es leise rascheln, als hätte sich jemand von einem Lager erhoben.
Er warf einen Blick über die Schulter.
Und sah die Kerze heftig flackern.
Weitere Kostenlose Bücher