Valley - Tal der Wächter
Schmerzen. Greif zu.«
Das ließ sich Hal nicht zweimal sagen.
Da stieß Aud einen leisen Schrei aus: »Bei Arnes Geist!«
Hal blickte mit vollem Mund auf. »’tschuldigung. Ich bin halb verhungert.«
»Das meine ich nicht. Deine Jacke ist ja völlig zerfetzt!«
»Huch!«
Hal richtete rasch seine Kleidung ein wenig und futterte weiter. Der Weidensud war, wie nicht anders zu erwarten, abscheulich bitter. Das Bier und die Pasteten schmeckten entschieden besser, und erst jetzt merkte er so richtig, was er für einen Bärenhunger hatte.
Aud hatte sich in sichere Entfernung zurückgezogen. »Hier geht’s ja zu wie am Schweinetrog. Hör mal, ich verschwinde jetzt wieder. Ich will sehen, ob ich dir ein paar abgelegte Kleider von Vater besorgen kann. Die passen dir zwar nicht, aber dir beim Anprobieren zuzusehen, wird bestimmt lustig. Ich bin bald wieder hier. Rühr dich nicht vom Fleck.«
Hal hob den Kopf. Sein Gesicht war um den Mund herum voller Pastetenkrümel. »Ich habe mich noch gar nicht richtig bedankt, Aud. Das war wirklich... äh... ich weiß nicht, wie ich das jemals...«
Aud stand schon an der Heuluke, aus der ein Stück Leiter herausragte. Sie kletterte gelenkig von Sprosse zu Sprosse, ihr langer Zopf schlenkerte hin und her. »Gern geschehen. Ich beherberge nicht oft Banditen in meiner Scheune.War mir eine Ehre. Außerdem hast du mir, als du gestern Abend im Dreck herumgekrochen bist, geschworen, dass du auf ewig in meiner Schuld stehst, schon vergessen? So eine Gelegenheit kann man sich doch nicht entgehen lassen. Also muss ich ja dafür sorgen, dass du am Leben bleibst.Wobei mir einfällt – wag dich bloß nicht ins Freie! Als ich mich vorhin aus dem Haus geschlichen habe, sind irgendwelche Reiter in den Hof geprescht. Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten, aber ich gehe lieber mal nachsehen, was da los ist. Dann komme ich wieder, und du kannst mir die ganze Geschichte erzählen, und zwar von Anfang bis Ende und ohne etwas auszulassen. Also stärk dich vorher lieber richtig!«
Sie zwinkerte ihm zu und winkte noch einmal. Das Licht aus der offen stehenden Scheune strahlte ihr Gesicht von unten an, dann war sie verschwunden. Hal machte sich wieder über den Proviant her.
Hinterher hatte Hal Bauchschmerzen. Er wartete darauf, dass Aud zurückkam. Ganz hinten, wo das Dach schadhaft war, fiel ein eiförmiger Fleck Sonnenlicht auf das Heu. Hal spähte durch die Öffnung nach draußen und sah Gemüsebeete, gepflegte Getreidefelder, niedrige Mauern und den Saum des Arnesson-Waldes.Wenn er sich den Hals verrenkte, konnte er links ein paar der lang gestreckten, niedrigen, mit roten Schindeln gedeckten Außengebäude erkennen, dazu in der Ferne kleinere Höfe und einzelne frei stehende Bäume.Alles sah friedlich aus, alltäglich, hübsch... und er fühlte sich schmerzlich davon ausgeschlossen. Er zog den Kopf wieder zurück und schlenderte ans andere Ende des Heubodens, das in bräunliche Schatten getaucht war. Immer wieder hörte er draußen irgendwelche Leute, die ihrer Arbeit nachgingen. Frauen spazierten, leise miteinander lachend, vorbei und plötzlich musste er an seine Mutter denken. Auch Männerstimmen hörte er, aber sie waren zu weit weg, als dass Hal etwas hätte verstehen können. Einmal galoppierte ein Reiter an der Scheune vorbei.
Er ließ die Geräusche durch sich hindurchziehen, aber er rührte sich nicht, saß einfach nur da und starrte ins Leere. Der Weidensud linderte die körperlichen Schmerzen, aber seine Benommenheit war nicht nur darauf zurückzuführen gewesen. Er spürte trotz seines vollen Magens eine Art innere Leere, eine sonderbare Gleichgültigkeit: Leidenschaft, Wut, Hass, Kummer, Furcht – alles, was in ihm gebrodelt, was ihn in den letzten Wochen umgetrieben und ihn verbissen sein Ziel hatte verfolgen lassen – alle diese Gefühle waren nun verschwunden und nur noch eine verschwommene Erinnerung.
Der gestrige Tag war zu erlebnisreich gewesen, sodass er davon nichts gemerkt hatte, aber jetzt begriff Hal, dass es ihm schon so gegangen war, als er in Olafs Schlafzimmer gestanden hatte. Die jähe Erkenntnis, dass er nicht fähig war, jemanden umzubringen, und sein ganzes Vorhaben auf grundfalschen Voraussetzungen beruht hatte, erschütterte ihn. Er staunte, wie schlecht er sich selbst kannte, und auf einmal bedeuteten ihm alle Ideale, die er sein Leben lang für richtig gehalten hatte, nichts mehr. Er hatte sich nicht überwinden können, einen Blutsverwandten zu
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