Vampir sein ist alles
Ich schob rasch die Gardine zur Seite und schaute nach draußen, doch zu meiner Enttäuschung sah ich nur die roten Rücklichter des großen Lastwagens. Ich blieb noch ein bisschen am Fenster stehen und spähte angestrengt in die Dunkelheit, sah jedoch nur mein besorgtes Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte.
Im ersten Stock warf Benjamin einen Stapel Bücher auf den Boden. Mátyás fuhr zusammen, erholte sich jedoch rasch von seinem Schreck und sah mich verlegen an.
„Siehst du? Sogar Benjamin ist in Unruhe. Das hat nichts Gutes zu bedeuten“, sagte ich.
Er zuckte lediglich mit den Schultern und verkniff sich einen bissigen Kommentar; vielleicht, weil wir gerade noch zusammen gelacht hatten. „Mein Vater ist ein Vampir, Garnet."
„Das heißt nicht, dass er nicht auch mal in Schwierigkeiten geraten kann“, entgegnete ich. „Er könnte verletzt sein.“
„Oder er amüsiert sich gerade wie Bolle“, erwiderte Mátyás und hob sofort die Hand, um mich zu beschwichtigen. „Die Polizei nimmt eine Vermisstenanzeige auch erst auf, wenn jemand mindestens achtundvierzig Stunden verschwunden ist“, fügte er hinzu. „Hast du ihn heute noch gesehen?“
Ich nickte. „Ein paar Stunden vor dem geplanten Vortrag.“
„Hat er sich vor Kurzem noch gestärkt?“
Ich schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Hätte ich etwas gesagt, hätte meine Stimme wahrscheinlich meine Enttäuschung darüber verraten, dass ich Sebastian nicht dazu hatte bringen können, von meinem Blut zu trinken.
„Wie lange ist das letzte Mal her?“
Woher sollte ich das wissen? Sebastian teilte mir seine Aderlasstermine in der Regel nicht mit. „Keine Ahnung“, antwortete ich leise.
Mátyás setzte wieder ein Lächeln auf, aber diesmal war es alles andere als ansteckend. „Wenn du dir so große Sorgen machst“, flötete er, „dann solltest du sie anrufen.“
„Was?“
„Ich weiß, dass er hier irgendwo sein kleines schwarzes Buch herumliegen hat“, sagte Mátyás und ging wieder in die Küche.
Ich stürmte neugierig hinter ihm her; ich konnte einfach nicht anders. Der zieht doch nur eine Show ab, dachte ich, als ich sah, wie Mátyás in den Rezepten und sonstigen Papieren auf dem Kühlschrank stöberte. Sebastians ungeratener Sohn konnte unmöglich besser darüber Bescheid wissen als ich, wo er seine persönlichen Dinge aufbewahrte.
„Sein kleines schwarzes Buch?“, wiederholte ich, obwohl ich befürchtete, dass ich sehr genau wusste, was in diesem Buch stand.
„Ah, da ist es ja!“ Mátyás hielt ein dünnes schwarzes Adressbuch hoch und begann, darin zu blättern. Er stand so dicht neben mir, dass ich seine Bierfahne riechen konnte. Ich verbot es mir, auch nur einen Blick in das Buch zu werfen.
„Ich werde diese ... Blutspenderinnen auf keinen Fall anrufen“, sagte ich.
„Kein Problem, Cherie. Dann mache ich das“, entgegnete Mátyás.
Ich nahm ihm das Buch aus der Hand. „Das lässt du ganz schön bleiben!“
Mátyás sah mich beleidigt an. „Ich dachte, du wärst wirklich in Sorge um Sebastian. Wenn ich anrufe, klärt sich vielleicht alles auf.“
„Du wirst nicht anrufen. Und ich tue es auch nicht“, sagte ich. Meine Hände zitterten fast so sehr wie meine Stimme. Ich hätte das Buch am liebsten aus dem Fenster geschleudert oder in die Mülltonne oder in Mátyás’ selbstgefälliges Gesicht - einfach irgendwohin, um den Beweis für Sebastians Kontakte zu anderen Frauen los zu sein.
Mátyás hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte dir nur einen Gefallen tun.“
„Lügner!“, knurrte ich. Dann drehte ich mich rasch um und stürmte die Treppe hoch, denn sonst hätte ich ihn vermutlich geschlagen. Nachdem ich im Flur fast über seinen Koffer gestolpert wäre, warf ich mich auf Sebastians Bett. Mir stiegen die Tränen in die Augen, als ich merkte, dass die Kissen nach seinem Shampoo rochen. Das kleine schwarze Buch hielt ich immer noch in der Hand. Mit einem frustrierten Aufschrei warf ich das blöde Ding an die Wand.
Ich lag auf dem Bett und starrte in die Ecke, in der das Adressbuch gelandet war. Es ließ mir einfach keine Ruhe, und so stand ich schließlich auf und holte es mir. Es war dünn und schlecht gebunden, nichts Teures. Die Ecken waren abgestoßen, und der Rücken war gebrochen. Ich fuhr mit den Fingern über den groben Leineneinband, als könnte er mir Hinweise zum Inhalt des Buches geben, ohne dass ich es öffnen musste. Von außen besehen wirkte es völlig
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