Vampir sein ist alles
Eichenkommode im Louis-Quatorze-Stil, an der anderen eine Kommode mit einem dreiteiligen Spiegel. Der begehbare Kleiderschrank quoll über vor Klamotten, die alle Facetten von Sebastians Leben widerspiegelten: Overalls mit Ölflecken, T-Shirts, Jeans, Lederjacken, schicke Abendmäntel,
Armani-Anzüge und ein paar Smokings.
Gerahmte botanische Zeichnungen von diversen Kräutern hingen an den Wänden; dazwischen auch echte gepresste Pflanzen mit Anmerkungen in Sebastians Handschrift. Auf den Kommoden standen silberne Rahmen mit verblichenen sepiafarbenen Fotos von Leuten, die Sebastian einmal nahegestanden hatten.
Es war ein sehr persönliches Zimmer.
Ich öffnete tief in meinem Inneren die Tür zu meinem magischen Blick, und plötzlich sah ich die Rückstände von Sebastians Energie wie schwarze Rauchfähnchen im Raum herumwirbeln. Überall, wo er länger verweilt hatte, befanden sich große dunkle Flecken. Eins von den Fotos auf der Kommode war vollständig von einem solchen Fleck verdeckt. Ich beschloss, es genauer unter die Lupe zu nehmen, wenn ich mit meiner magischen Suche fertig war.
Tief entspannt versank ich in einen meditativen Zustand und spürte, wie ich ein Stückchen über meinem Körper schwebte. Ich schaute nach unten und suchte nach der dünnen Schnur, die mich mit Sebastian verband. Sie war silbern, durchwirkt mit Gold und schon ziemlich zerfranst. Ich hatte ja schon gespürt, dass unsere empathische Bindung schwächer wurde, und auf der Astralebene war es auch deutlich zu sehen. Ich zog an der Schnur und merkte, wie sie sich spannte. Sebastian war also noch am Leben. Wäre er es nicht, hätte ich keinen Widerstand gespürt, weil das andere Ende der Schnur lose gewesen wäre.
Ich wollte mich gerade an der Schnur entlanghangeln, als unvermittelt ein Mann vor mir auftauchte. Er war groß und hager, von der Statur eines Bauern, hatte mausbraunes Haar und Bartstoppeln am Kinn. Unsere Begegnung schien ihn ebenso zu überraschen wie mich.
„Garnet?“ Obwohl ich noch nie seine richtige Stimme gehört hatte, erkannte ich ihn sofort.
„Benjamin!“
Es war Sebastians Hausgeist.
Er sah genauso echt aus wie der Bettpfosten, an dem er lehnte. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Es war, als hätte ich nach Jahrzehnten mit Zimmerantenne und schlechtem Fernsehempfang plötzlich HDTV.
„Was machst du hier?“, fragte er. „Bist du tot?“
„Ich hoffe nicht“, sagte ich und schaute auf meinen Körper hinunter. Abgesehen davon, dass ich mir jedes Mal, wenn ich mich so sah, vornahm, mit Diät und Gymnastik anzufangen, schien ich eigentlich ganz normal zu atmen. „Ich suche nach Sebastian.“
„Er ist nicht hier“, antwortete Benjamin, und seine Miene verfinsterte sich. „Nur sein Junge.“
Ich lächelte. „Ich mag Mátyás auch nicht besonders.“
Er schnaubte. „Sebastian hat die Banne letzte Woche verändert. Er hat mir gesagt, ich muss den Balg reinlassen.“
Letzte Woche? Dann hatte Sebastian es wohl im Zuge der Vorbereitungen auf den Heiratsantrag gemacht. „Warum gehst du nicht nach unten und sorgst ein bisschen für Aufruhr?“, schlug ich ihm verschmitzt vor. Benjamin war ein Poltergeist; er konnte Bilder von der Wand holen, Licht-
schalter bedienen und alle möglichen anderen nervigen, unheimlichen Dinge tun. „Du weißt schon, ihn ein bisschen nervös machen.“
„Dann belegt mich der Zigeunerjunge am Ende noch mit einem Fluch“, entgegnete Benjamin, wies mit dem Kinn zur Treppe und schüttelte den Kopf, aber so richtig besorgt klang er nicht. „Außerdem habe ich Sebastian versprochen, ihm keine Angst einzujagen.“
Mátyás hat es gut, dachte ich, eine solche Sonderbehandlung wurde mir nie zuteil!
„Aber sicher doch, meine Liebe. Ich habe strikte Anweisung, dich nicht zu töten.“
Na, das war ja nett, oder? „Äh, vielen Dank!“
„Keine Ursache“, entgegnete er freundlich, taxierte mich aber mit finsterem Blick. Sein Bild flimmerte etwas, und ich glaubte, dahinter eine wesentlich unheimlichere Gestalt zu erkennen - klapperdürr, hohläugig und hungrig. Aber sie war so schnell wieder verschwunden, dass ich nicht wusste, ob ich sie mir vielleicht nur eingebildet hatte.
„Und wie willst du Sebastian finden?“, fragte er.
„Oh“, machte ich und zeigte ihm die Schnur in meiner Hand. ,,Ich dachte, ich folge der hier.“
Er schirmte seine Augen mit der Hand ab und spähte in die Ferne. „Ich kann das andere Ende nicht sehen. Bist du sicher, dass sie noch mit ihm
Weitere Kostenlose Bücher