Vampir sein ist alles
Flucht“, entgegnete er, und so, wie er es sagte, klang es, als handelte es sich um meinen Superheldinnen-Decknamen. „Du versteckst dich doch vor dem FBI und so ...?“, fragte er, als traute er seinem Gedächtnis plötzlich nicht mehr so recht.
Ich hätte wohl besser geleugnet, jemals mit Bundesagenten zu tun gehabt zu haben, aber irgendwie tat mir der Knabe leid. Außerdem war er mein Nachbar, und die Begebenheit mit dem FBI war das Einzige, was uns verband. „Ja, das bin ich.“
Auf seinem Gesicht breitete sich ein irres Grinsen aus. „Alter!“
Mein Blick fiel auf die Pflanzenstängel vor dem Kellerfenster, die vom Sturm hin- und hergepeitscht wurden. Dann richteten sie sich plötzlich kerzengerade auf. Als irgendwo ein dicker Ast herunterkrachte, zogen die Jungs den Kopf ein.
„Mann, hoffentlich hat der nicht das Dach kaputt gemacht“, sagte der mit den Tattoos, nahm noch einen Schluck und reichte das Glas an den Typen mit den Doritos weiter.
„Alter, du wohnst doch gar nicht hier“, entgegnete der mit dem Unterlippenbärtchen.
„Stimmt“, sagte der andere, als wäre ihm dieser Umstand gerade erst bewusst geworden.
Ich überließ die Intelligenzbestien sich selbst und begann, nach dem Radio zu suchen, das ich auf einem der Regale über der Waschmaschine gesehen hatte, als ich das letzte Mal im Keller gewesen war. Doch ich fand nur eine Taschenlampe ohne Batterien, zwei tote Asseln, ein Glas mit Münzen und jede Menge leere Waschmittelflaschen.
Während ich die Regale absuchte, hatte ich die ganze Zeit eine Hand auf meinem Bauch. War Lilith wirklich verschwunden? Ich begann zu frieren. Das Wasser tropfte nur so von meinen nassen Klamotten herunter.
„Soll man eigentlich die Fenster auflassen oder so?“, fragte der Typ mit den Doritos kauend.
„Ich sage nur: Südost“, meinte der mit dem Bärtchen. „Ich glaube, man soll in den südöstlichen Teil des Hauses gehen.“
Ich grinste in mich hinein. Ehrlich gesagt, überraschte es mich, dass die drei in ihrem Zustand den Keller überhaupt gefunden hatten. Ich rumorte weiter in den Regalen herum und sorgte dabei gleich für Ordnung. Ich fand noch einen einzelnen Schlittschuh, ein Terrarium mit einem verstaubten Hamsterrad und eine Küchenrolle.
Zitternd vor Kälte wischte ich mir die nassen Haare aus dem Gesicht. Ich hielt mir immer noch den Bauch, als wollte ich eine offene Wunde schützen. Seit über anderthalb Jahren war ich nicht mehr ohne Lilith gewesen. SIE war ein Teil von mir. Wie hatte SIE plötzlich verschwinden können?
„Nä, unter den Türsturz, glaube ich. Oder unter die Treppe?“, fragte der Tätowierte.
„Also, ich glaube, man soll sich in die Badewanne setzen.“
„Aber nur, wenn man keinen Keller hat, Alter!“
„Gräben sind nicht so gut.“
„Doch, Gräben sind gut. Brücken sind schlecht. Und Wohnwagen. In so einem Trailer will man bei einem Tornado wirklich nicht hocken. Dann ist man verloren.“
Sie nickten alle drei einvernehmlich. Der Sturm machte Geräusche wie ein Presslufthammer, und ich rieb mir die Arme. In meinen durchnässten Klamotten wurde mir immer kälter. Wo war Micah nur hin? Hatte er Lilith mitgenommen? Ein lautes Donnerkrachen ließ mich zusammenfahren. Hatte dieses Unwetter vielleicht etwas mit unserer Magie zu tun?
Nach meinem Traum (beziehungsweise meiner Vision) war ich noch sicherer, dass Sebastian in Gefahr war und wahrscheinlich sogar irgendwo gefangen gehalten wurde. Ich wollte ihn suchen, doch ich saß mit drei Kiffern im Keller fest, die sich an die Regeln zu erinnern versuchten, die sie in der sechsten Klasse im Katastrophentraining gelernt hatten.
„Ist schon abgefahren, oder?“, sagte der mit dem Bärtchen. „Ich meine, vor zehn Minuten schien noch die Sonne. Ich hab echt nicht gedacht, dass es in dieser Ecke von Wisconsin so viele Tornados gibt. Weil wir uns hier am Rand der strömungsfreien Zone befinden, wisst ihr?“
Ich starrte ihn genauso verblüfft an wie seine zwei Kumpel.
„Strömungsfreie Zone?“, wiederholte er und schien wissen zu wollen, ob uns der Begriff geläufig war, aber niemand sagte etwas, und so erklärte er: „Das ist ein Gebiet, das in der zweiten Eiszeit nicht von Gletschern überformt wurde. Deshalb gibt’s da solche frei stehenden Felsen und die tiefen Schluchten.“
„Mann, du redest ja wie ein Geologe oder so was“, stellte der mit den Doritos bewundernd fest.
„Alter, das ist mein Hauptfach.“
Zugegeben, ich war auch beeindruckt.
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