Vampirdämmerung / Roman
seine Hand unter ihre Röcke zu tauchen und seine Zähne in ihrem Hals zu vergraben.
Sie kam an einem großen Lederhandschuh vorbei, den jemand verloren haben musste. Einer der Wächter? Ein Spion von Miru-kai? Vorsichtig ging sie um den Handschuh herum, den sie ungern mit dem Schuh berühren wollte. Er war eindeutig zu groß für etwas, das jemals menschlich gewesen war.
Nun, jeder Spion in dieser Gegend verschwendete seine Zeit. Sylvius war fort.
Constance erreichte ihr Ziel. Viktor war nirgends zu entdecken, aber ihr Herr war dort. Constance blieb im Schatten der Tür, so dass sie Atreus sehen konnte, ohne dass er sie bemerkte. Er saß in seinem großen verzierten Stuhl, der seine Gestalt nach drei Seiten hin einrahmte, was ihn mehr wie ein Gefängnis als einen Thron anmuten ließ.
Atreus wiegte sich vor und zurück, das Gesicht in seinen Händen vergraben. Constance wusste, was das bedeutete. Die Anstrengung während Reynards Besuch hatte seinen Geist zu sehr belastet. Atreus’ schleichender Wahnsinn nahm so viele verschiedene Formen an: hochtrabende Träume, Vergesslichkeit, Halluzinationen. Nun hatte er auch noch Gewalt und Verrat mit in sein Repertoire aufgenommen.
Trauerte er um Sylvius? Constance fragte sich, ob er sich überhaupt entsann, wer Sylvius war.
Soll ich zu ihm gehen?
Aber sie blieb an der Tür und rieb Sylvius’ Anhänger zwischen Daumen und Fingern. Ehedem hatte sie sich stets an Atreus gewandt, wie eine Blume zum Licht. Sie hatte sich nach seiner Anerkennung verzehrt, nach seinem Schutz. Heute fühlte sich selbst ihr Zorn auf ihn dumpf an, ummantelt von matter, farbloser Trauer. Was konnte sie schon für ihn tun? Wie sich gezeigt hatte, zählte ihre Loyalität gar nichts. Sie hatte ihn über Jahre umsorgt, doch er brachte sie fast um und gab ihren Sohn fort.
Reynard hatte versprochen, dass seine Männer täglich in diesem Teil der Burg nach dem Rechten sehen und ihnen alles bringen würden, was gebraucht wurde. Und Reynard würde Wort halten. Es gab folglich keinen Grund, sich um Atreus’ körperliches Wohl zu sorgen.
Constance schlich dicht an der Mauer entlang in den Raum und bog in einen Seitengang weiter rechts ein. Es war ein kurzer Korridor, von dem aus einzelne Kammern abgingen. Atreus bewohnte die größte von ihnen. Die Tür dorthin, ein spitzer Bogen aus dunklem polierten Holz, befand sich gleich neben Constance.
Atreus untersagte, dass irgendjemand einen Fuß in seine Gemächer setzte, deren Tür immer fest verschlossen war. Woran Constance sich gehalten hatte, denn sie wollte die Privatsphäre des Zauberers nicht stören – bis heute.
Angst brüllte in ihr wie ein Tier in einer Eisenfalle.
Hoffentlich ist es das Risiko wert!
Ein weiterer Beleg für Atreus’ rapiden Verfall war, wie nachlässig er dieser Tage mit seinen Geheimnissen umging. So stand die Tür einen Spalt weit offen, gerade genug, dass man den matten Lampenschein drinnen sehen konnte. Vorsichtig stupste Constance die Tür an, so dass sie mit einem leisen Knarren aufschwang.
Die Schlafkammer war groß. Auf dem Bett in der Mitte lagen dunkle Felle, und eine Terrakotta-Öllampe hing an Ketten von der Decke. In der einen hinteren Ecke stand ein hoher in schwarze Seide gehüllter Tisch mit magischen Utensilien, und am Fußende des Bettes befand sich eine Truhe. Nichts wirkte unmittelbar bedrohlich.
So weit, so gut.
Aber bei Zauberern konnte man nie wissen.
Constance hatte gehört, dass Vampire nicht uneingeladen in ihre Häuser oder Räume gehen konnten. Das schien innerhalb der Burg nicht zu gelten. Atreus’ Magie indessen war eine andere Sache. Sie konnte mehr anrichten, als Constance bloß aus seiner Kammer fernzuhalten. Sie vermochte sie zu vernichten.
Vor Anspannung kribbelte ihre Kopfhaut, als sie probehalber eine Hand in den offenen Türrahmen schwenkte. Beinahe rechnete sie damit, von einem Flammenschwall zurückgeschleudert zu werden.
Nichts.
Sie streckte einen Fuß in die Kammer wie ein Schwimmer, der fühlen wollte, ob das Wasser in einem Teich nicht zu kalt war.
Nichts.
Klopfenden Herzens schlüpfte sie in Atreus’ Kammer und trippelte auf Zehenspitzen über den Steinboden, sämtliche Sinne in höchste Bereitschaft versetzt. Was Constance wollte, befand sich in der Truhe. Zumindest nahm sie es an. Auch wenn sie noch nie in diesem Raum gewesen war, hatte sie ihren Herrn doch dann und wann heimlich beobachtet.
Nervös blickte sie zu dem Tisch, an dem Atreus seine Zauber vorbereitete.
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