Vampirdämmerung / Roman
andererseits war Josef ein wagemutiger Krieger. Wohingegen sie bloß eine schlichte Milchmagd war. Sie war daran gewöhnt, alles zu ertragen, sich im Hintergrund zu halten, keine hochtrabenden oder waghalsigen Pläne zu schmieden, nicht den Zorn ihres Herrn auf sich zu ziehen – erst recht nicht, seit sie für Sylvius sorgte. Ihr Mut war in dem Augenblick erwacht, in dem Atreus jemanden verletzte, den sie liebte.
Damit hatte er eine Grenze überschritten.
Sie nahm den Schlüssel in ihre Hand. Er sah genauso aus wie der, den Josef ihr gezeigt hatte, aus schwerem Gold mit Streifen von einem dunkleren, bräunlichen Metall. Das Muster ähnelte einer fransigen Sonne.
Ein Schlüssel bringt mich in die Welt draußen, wo es viele, viele Menschen gibt. Dort kann ich jagen und eine echte, starke Vampirin werden.
Danach würde sie stark, verwandelt zurückkehren und Sylvius retten.
Zum ersten Mal, seit ich ein Mädchen war, werde ich frische Luft atmen.
Schwindel überkam sie.
Freiheit.
Eine eisige Faust schloss sich um ihr Herz. So lange schon war sie nicht außerhalb der Burg gewesen. Josef hatte ihr geholfen, es nachzurechnen; sie war seit zweihundertfünfzig Jahren in der Burg. Die Welt draußen hatte sich verändert. Wie sollte sie sich dort zurechtfinden? Sicher würde sie sich vollkommen allein und verwirrt fühlen.
Sie wollte trotzdem gehen. Nein, sie
musste
gehen, auch wenn sich der offene Himmel über ihr anfühlen würde, als hätte man ihr die Schädeldecke weggerissen. Constance fürchtete sich vor all dem freien Raum, all den Menschen …
Eine träge Stille schwebte wie Staub in den Schatten der Burg.
Ich war zu lange hier.
Denk nicht daran! So arg kann es gar nicht sein.
Constance ließ den Schlüssel vorn in ihr eng geschnürtes Mieder fallen. Rauh und kalt glitt es zwischen ihre Brüste. Der Schlüssel würde unangenehm drücken, als konstante Erinnerung daran, was sie getan hatte. Und ihr Gewissen würde sie plagen.
Diebin!
Nachdem sie die Schmuckkiste geschlossen hatte, stellte Constance sie in die Truhe zurück. Vielleicht wäre es klug gewesen, ein paar andere Stücke zu nehmen, die sie verkaufen oder tauschen konnte, nur wollte sie nicht noch mehr sündigen, als sie es ohnehin schon tat. Die vielen Jahre in der Burg und an den brutalen Höfen eines Zaubererkönigs hatten ihren Sinn für Recht und Unrecht nicht trüben können. Sie hatte gekämpft, um sich zu verteidigen, aber sie hatte nie gemordet. Sie hatte Luxus genossen, aber nie gestohlen. Bis heute.
Arm aufgewachsen, war sie wieder arm geworden, als Atreus’ Macht schwand. Sie hatte begriffen, dass bei jemandem, der wenig besaß, unerheblich war, wenn ihm das auch noch genommen wurde. Aus diesem Grund hatte Constance nie etwas gewollt, das ihr nicht zustand. Nun jedoch nahm sie sich ein Messer und steckte es in die Scheide an ihrem Gürtel. Sie musste das Messer ersetzen, das Reynard konfisziert hatte. War das nicht ihr gutes Recht?
Nachdem sie den Truhendeckel geschlossen hatte, schlich Constance sich aus der Kammer, den Schlüssel wie ihre Hoffnung dicht an ihrem Herzen.
Sie wusste, wo eine Tür war.
Vor ungefähr einem Jahr war sie nach einer großen Schlacht plötzlich aufgetaucht. Eindeutig handelte es sich um keine gewöhnliche Tür, denn sie war so fest verschlossen, dass die Wachen es nicht für nötig erachteten, dort einen Posten aufzustellen. Sie passierten sie nur gelegentlich auf ihren Patrouillengängen.
Dennoch verblüffte es Constance, dass es diese Tür überhaupt gab. Trotz der Schlüssel, trotz einzelner Portale, die aufflackerten, wenn ein Dämon gerufen wurde, sollte die Burg hermetisch abgeriegelt sein. Ein Gefängnis. Also: Warum existierte dort auf einmal eine Tür?
Vielleicht hat Reynard recht, und die Magie der Burg verfällt. Wie Atreus.
Constance verlangsamte ihre Schritte. Die Tür war nun in Sicht. Im Weitergehen angelte Constance den münzförmigen Schlüssel hervor. Leider hatte Josef nicht erwähnt, wie das vermaledeite Ding zu benutzen war.
Sie blickte sich um und erschauderte unwillkürlich. Jeden Moment könnte eine Patrouille kommen, und sie hatte gesehen, was sie mit dem letzten armen Narren machten, der sie in Rage gebracht hatte. Bran hatte eine Vorliebe dafür, seine Opfer lebendig zu häuten.
Laufend überwand sie die letzten Meter bis zur Tür und drückte ihre Hand auf die rauhe Oberfläche. Ihre Finger wirkten zerbrechlich auf dem groben Holz, sah man von ihren langen scharfen
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