Vampire Academy 04
in dem Maße, wie sie es sollten. Adrian und Avery wirkten zwar durchaus besorgt, aber ich hatte das Gefühl, dass sie Lissas Verhalten lediglich dem Alkohol zuschrieben. Lissa erinnerte mich noch immer stark an das Mädchen, das sie bei unserer Rückkehr nach St. Vladimir gewesen war, als sie vom Geistelement ergriffen wurde und ihr Verstand völlig durcheinandergeriet. Abgesehen davon … Ich wusste inzwischen genug über mich, um zu begreifen, dass sowohl meine Wut als auch meine Fixierung darauf, Strigoi zu bestrafen, ebenfalls durch die dunkle Seite des Geistelements beeinflusst wurde. Das bedeutete, dass ich die negative Energie von ihr aufnahm. Sie hätte also von Lissa abfließen müssen, anstatt sich noch weiter aufzubauen. Was war nur los mit ihr? Woher kamen diese aufbrausenden, verrückten und eifersüchtigen Charakterzüge? Nahm die Dunkelheit des Geistes einfach an Intensität zu, sodass sie sich in uns beiden ausbreitete? Teilten wir sie uns?
„Rose?“
„Hm?“ Ich hatte mit leerem Blick auf den Fernseher gestarrt, doch jetzt sah ich Denis an. Er schaute auf mich herab, sein Handy in der Hand.
„Tamara musste Überstunden machen. Sie hat jetzt Feierabend, aber …“
Er deutete mit dem Kopf zum Fenster. Die Sonne war schon nicht mehr zu sehen, der Himmel purpurn, mit einem Hauch von Orange am Horizont. Tamaras Arbeitsstelle war leicht zu Fuß zu erreichen, und obwohl wahrscheinlich keine echte Gefahr drohte, wollte ich sie nach Sonnenuntergang dennoch nicht allein dort draußen wissen. Ich stand auf. „Dann komm, wir holen sie ab.“ An Lew und Artur gewandt fügte ich hinzu: „Ihr zwei könnt hierbleiben.“
Denis und ich gingen die halbe Meile zu dem kleinen Büro, in dem Tamara arbeitete. Sie erledigte dort den ganzen Bürokram wie Aktenablage und Kopieren, und an diesem Tag war sie offenbar mit einem Projekt beschäftigt, das sie bis in die Abendstunden dort festgehalten hatte. Wir trafen uns an der Tür und kehrten ohne Zwischenfall zurück, während wir lebhaft über unsere Jagdpläne für den Abend sprachen. Als wir Tamaras Wohnhaus erreichten, hörte ich von der anderen Straßenseite ein seltsames Heulen. Wir alle drehten uns um, und Denis kicherte.
„Grundgütiger, das ist wieder diese Verrückte“, murmelte ich.
Tamara lebte nicht etwa in einem heruntergekommen Viertel, aber wie in jeder Stadt gab es auch hier Obdachlose und Bettler. Die Frau, die wir dort drüben beobachteten, war beinahe so alt wie Jewa, und sie lief häufig die Straße rauf und runter, wobei sie ständig vor sich hinmurmelte. Heute lag sie rücklings auf dem Gehweg und gab seltsame Laute von sich, während sie ihre Gliedmaßen bewegte wie eine hilflose Schildkröte.
„Ist sie verletzt?“, fragte ich.
„Nein. Bloß verrückt“, sagte Denis. Er und Tamara drehten sich um, wollten hineingehen, aber irgendein weichherziger Teil von mir konnte sie nicht einfach da liegen lassen. Ich seufzte.
„Ich komme gleich rein.“
In der Straße war alles ruhig (abgesehen von der alten Dame), und ich überquerte die Fahrbahn ohne Furcht vor Verkehr. Als ich die Frau erreichte, streckte ich meine Hand aus, um ihr aufzuhelfen, und dachte lieber nicht daran, wie schmutzig sie war. Denis hatte recht gehabt, sie schien einfach nur verrückt zu sein. Zumindest war sie nicht verletzt; sie hatte anscheinend einfach beschlossen, sich hinzulegen. Ich schauderte. Wenn es um Lissa und mich ging, warf ich leichtfertig mit dem Wort „verrückt“ um mich, aber das hier war echte Verrücktheit. Ich hoffte wirklich sehr, dass der Geist uns niemals so weit treiben würde. Die obdachlose Dame wirkte überrascht über die Hilfe, nahm jedoch meine Hand und plapperte ganz aufgeregt auf Russisch drauflos. Als sie versuchte, mich aus Dankbarkeit zu umarmen, trat ich zurück und hob die Hände zum international bekannten „Bleib mir vom Leib“-Signal.
Sie blieb mir tatsächlich vom Leib, quasselte aber weiter glücklich vor sich hin. Dann hielt sie plötzlich die Seiten ihres langen Mantels von sich weg, fast wie ein Ballkleid, und drehte sich singend im Kreis. Ich lachte, überrascht, dass mich so etwas in meiner grimmigen Welt noch aufheitern konnte. Als ich wieder zurück über die Straße zu Tamaras Haus gehen wollte, hörte die alte Frau auf zu tanzen und begann von neuem, glückselig auf mich einzureden.
„Tut mir leid, ich muss gehen“, erklärte ich ihr. Sie schien meine Worte jedoch gar nicht zu registrieren.
Dann
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