Vampire Academy 04
Zurückhaltung war wie weggeblasen.
„Es war nichts“, sagte Lissa, die es ärgerte, dass ausgerechnet Jill sie zurechtwies. „Und dich geht das gar nichts an.“
„Aber du bist mit Christian zusammen! Wie konntest du ihm das antun?“
„Entspann dich, Küken“, warf Avery ein. „Ein betrunkener Kuss ist nichts im Vergleich zu einem betrunkenen Sturz. Und Gott weiß, dass ich in betrunkenem Zustand schon jede Menge Typen geküsst habe.“
„Und doch bleibe ich heute Abend ungeküsst“, sinnierte Adrian und schüttelte den Kopf.
„Das spielt doch gar keine Rolle.“ Jill war wirklich erregt. Sie hatte Christian mögen und schätzen gelernt. „Du hast ihn betrogen.“
Mit diesen Worten hätte Jill ebenso gut ihren rechten Haken an Lissa ausprobieren können. „Das habe ich nicht!“, rief Lissa. „Lass gefälligst deine Schwärmerei für ihn aus dem Spiel und bilde dir bloß nichts ein, das es nicht gibt.“
„Diesen Kuss habe ich mir ja wohl kaum eingebildet“, versetzte Jill errötend.
„Der Kuss ist das Letzte, worüber wir uns Sorgen machen sollten“, seufzte Avery. „Ich meine es ernst – lasst es gut sein, Leute. Wir reden morgen früh weiter.“
„Aber …“, begann Jill.
„Du hast sie gehört. Lass es gut sein“, knurrte eine neue Stimme. Reed Lazar war aus dem Nichts aufgetaucht und ragte hinter Jill auf, seine Miene so hart und beängstigend wie eh und je.
Jill zog die Augenbrauen hoch. „Ich sage doch nur die Wahrheit …“ An dieser Stelle musste ich ihren Mut bewundern, wenn man an ihr sonst so scheues Wesen dachte.
„Du gehst allen tierisch auf die Nerven“, sagte Reed, beugte sich tiefer zu ihr hinunter und ballte die Fäuste. „Und du gehst mir tierisch auf die Nerven.“ Ich war mir ziemlich sicher, dass dies die längste Wortmeldung war, die ich je von ihm gehört hatte. Ich neigte bereits dazu, ihn als eine Art Höhlenmensch zu betrachten, der lediglich Dreiwortsätze aneinanderreihen konnte.
„Hey, immer mit der Ruhe.“ Adrian sprang auf und stand Jill zur Seite. „Du solltest es lieber gut sein lassen. Was ist los mit dir, willst du dich etwa mit einem Mädchen prügeln?“
Reed drehte sich mit funkelnden Augen zu Adrian um. „Halt dich da raus.“
„Den Teufel werde ich tun! Du bist doch nicht ganz dicht.“
Wenn mich jemand gebeten hätte, eine Liste von Leuten anzufertigen, die höchstwahrscheinlich einen Kampf riskieren würden, um die Ehre einer Dame zu verteidigen, hätte Adrian Ivashkov auf dieser Liste ziemlich weit unten gestanden. Doch nun stand er mit entschlossener Miene da, eine Hand schützend auf Jills Schulter gelegt. Ich war voller Ehrfurcht. Und echt beeindruckt.
„Reed“, rief Avery. Auch sie hatte sich erhoben und stand jetzt auf Jills anderer Seite. „Sie wollte niemandem was. Verzieh dich.“
Die beiden Geschwister standen einfach nur da und starrten einander an, ein stummer Showdown, um herauszufinden, wer der Stärkere war. Ich hatte bei Avery noch nie einen so stechenden Blick gesehen, und schließlich funkelte Reed sie an und trat zurück. „Na gut. Auch egal.“
Die Gruppe staunte nicht schlecht, als er sich abrupt davonmachte. Die Musik war so laut, dass nur einige wenige Gäste den Streit mitbekommen hatten. Diese stutzten jedoch und starrten sie an, und Avery wirkte verlegen, als sie sich in ihren Sessel zurücksinken ließ. Adrian stand noch immer neben Jill. „Was zum Teufel war das denn?“, fragte er.
„Ich habe keine Ahnung“, gab Avery zu. „Manchmal wird er komisch und entwickelt dann einen übertriebenen Beschützerinstinkt.“ Sie schenkte Jill ein entschuldigendes Lächeln. „Es tut mir wirklich leid.“
Adrian schüttelte den Kopf. „Ich denke, es wird langsam Zeit für uns zu gehen.“
Selbst in ihrem betrunkenen Zustand musste Lissa ihm recht geben. Nach dieser Auseinandersetzung mit Reed war sie schlagartig wieder nüchtern, und wenn sie jetzt über ihre Taten dieses Abends nachdachte, wurde ihr ziemlich unbehaglich zumute. Die glitzernden Lichter und ausgefallenen Cocktails der Party hatten ihren Zauber verloren. Die trunkenen Späßchen der anderen Royals wirkten unbeholfen und dumm. Sie hatte das ungute Gefühl, dass sie diese Party am nächsten Tag möglicherweise bereuen würde.
Sobald ich wieder in meinem eigenen Kopf war, bekam ich es mit der Angst zu tun. Okay. Mit Lissa stimmte irgendetwas nicht, ganz und gar nicht, und niemand sonst schien es zu bemerken – nun, jedenfalls nicht
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