Vampire Academy 04
kleiner Junge das Treppengeländer hinuntergerutscht war. Die Bilder in meinem Kopf waren so real, dass ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass er seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen war.
„Sie haben sich erstaunlich gut erholt“, bemerkte Olena am nächsten Morgen. Sie beobachtete wohlwollend, wie ich einen ganzen Teller voller Blini förmlich inhalierte. Das sind ultradünne Pfannkuchen, aufeinandergestapelt und schichtweise mit Butter und Marmelade bestrichen. Mein Körper brauchte seit jeher eine Menge Nahrung, um bei Kräften zu bleiben, und solange ich nicht mit offenem Mund kaute oder etwas in der Art, ging ich davon aus, dass ich keinen Grund hatte, mich zu schämen, weil ich so viel aß. „Als Abe und Sydney Sie herbrachten, dachte ich, Sie seien tot.“
„Wer?“, fragte ich zwischen zwei Bissen.
Sydney saß mit dem Rest der Familie am Tisch und rührte ihr Essen wie gewöhnlich kaum an. Sie fühlte sich in einem Dhampir-Haushalt ganz offensichtlich unwohl, aber als ich an diesem Morgen die Treppe runtergekommen war, hatte ich definitiv auch Erleichterung in ihren Augen gesehen.
„Abe Masur“, sagte Sydney. Wenn ich mich nicht irrte, tauschten einige der anderen Leute bei Tisch wissende Blicke. „Er ist ein Moroi. Ich … ich wusste nicht, wie schwer du gestern Abend verletzt worden warst, daher habe ich ihn angerufen. Er ist mit seinen Wächtern zu uns rausgefahren. Er war derjenige, der dich hierhergebracht hat.“
Wächter. Plural. „Ist er ein Royal?“ Masur war kein königlicher Name, aber das war, was die Herkunft einer Person betraf, nicht immer ein sicheres Zeichen. Und obgleich ich langsam anfing, auf Sydneys soziale Netzwerke und Beziehungen zu mächtigen Leuten zu vertrauen, konnte ich mir dennoch nicht vorstellen, warum ein Royal sich meinetwegen so sehr ins Zeug legen sollte. Vielleicht war er den Alchemisten noch eine Gefälligkeit schuldig.
„Nein“, antwortete sie schroff. Ich runzelte die Stirn. Ein nicht königlicher Moroi mit mehr als einem Wächter? Sehr eigenartig. Es war klar, dass sie kein weiteres Wort über die Angelegenheit verlieren würde – zumindest nicht jetzt.
Ich schluckte einen weiteren Bissen Blini hinunter und wandte meine Aufmerksamkeit wieder Olena zu. „Danke, dass Sie mich aufgenommen haben.“
Karolina, Dimitris ältere Schwester, saß ebenfalls am Tisch, zusammen mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Sohn Paul. Paul war etwa zehn Jahre alt und schien von mir fasziniert zu sein. Dimitris jüngste Schwester Viktoria war auch mit von der Partie. Sie wirkte ein wenig jünger als ich. Die dritte Belikov-Schwester hieß Sonja und musste zur Arbeit, bevor ich aufgewacht war. Ich würde also warten müssen, bis ich auch sie kennenlernen konnte.
„Hast du wirklich ganz allein zwei Strigoi getötet?“, fragte Paul.
„Paul“, rief Karolina ihn zur Ordnung. „Das ist nun wirklich keine nette Frage.“
„Aber eine aufregende“, sagte Viktoria mit breitem Grinsen. In ihr braunes Haar mischten sich goldene Strähnen, aber das Blitzen ihrer dunklen Augen erinnerte mich so sehr an Dimitris Augen, wenn er aufgeregt gewesen war, dass es mir das Herz zerriss. Wieder hatte ich dieses gallige Gefühl, dass Dimitri hier war, ohne hier zu sein.
„Das hat sie allerdings“, sagte Sydney. „Ich habe die Leichen gesehen. Wie immer.“
Sie stellte ihren typischen, auf komische Weise gequälten Gesichtsausdruck zur Schau, und ich lachte. „Zumindest habe ich sie diesmal an einer Stelle liegen lassen, wo du sie finden konntest.“ Plötzlich schwand mein Humor dahin. „Hat irgendjemand … haben noch andere Menschen etwas bemerkt oder gehört?“
„Ich konnte die Leichen loswerden, bevor irgendjemand etwas gesehen hat“, antwortete sie. „Wenn jemand etwas gehört hat … nun, entlegene Orte wie dieser sind immer voller Aberglauben und Geistergeschichten. An sich haben die Leute keine handfesten Beweise für die Existenz von Vampiren, aber die Menschen glauben doch immer daran, dass das Übernatürliche und Gefährliche irgendwo lauert. Wie wenig sie doch wissen.“
Sie hatte von „Geistergeschichten“ gesprochen, ohne dass sich ihre Miene dabei verändert hätte. Ich fragte mich, ob sie gestern Nacht wohl irgendwelche Geister gesehen hatte, kam aber zu dem Schluss, dass dem wahrscheinlich nicht so war. Schließlich war sie erst gegen Ende des Kampfes herausgekommen, und falls ähnliche Situationen als Beweis gelten konnten, war
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