Vampire Academy 04
Gründe für ihre Abneigung gegen meine Familie war.
Lissa setzte für die Königin ein knappes, höfliches Lächeln auf und dankte ihr brav für die königliche Aufmerksamkeit. Lissa und ich verstanden genau, was da vorging. Dies war Tatianas Spiel. Jeder war Teil ihres Plans, und es gab keine Möglichkeit, sich ihr zu widersetzen. Für einen flüchtigen Moment kam Lissa abermals ein seltsamer Gedanke, die Erinnerung an etwas, das Viktor Dashkov einmal zu ihr gesagt hatte. Abgesehen von seinen verrückten Mord- und Entführungsplänen, hatte Viktor eine Revolution unter den Moroi anstiften wollen. Er war der Meinung gewesen, dass die Machtverteilung ausgesprochen ungerecht war – etwas, das auch Lissa gelegentlich glaubte – und dass die Macht von jenen, die zu viel Einfluss besaßen, schlichtweg missbraucht wurde. Der Moment verflog beinahe so schnell, wie er gekommen war. Viktor Dashkov war nur ein verrückter Schurke, dessen Ideen keine Beachtung verdienten.
Sobald es die Höflichkeit erlaubte, entschuldigte Lissa sich bei der Königin, und als sie den Raum durchquerte, hatte sie das Gefühl, vor Trauer und Wut explodieren zu müssen. Dann stieß sie beinahe mit Avery zusammen.
„O Gott“, sagte Avery. „Glaubst du, es gibt auf der ganzen Welt noch jemanden, der so peinlich ist wie Reed? Zwei Leute haben schon versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, doch er hört einfach nicht auf, alle zu verschrecken. Eben hat er sogar Robin Badica gesagt, sie solle den Mund halten. Ich meine, ja, sie hat pausenlos geplappert, aber trotzdem. Das ist alles andere als cool.“ Averys dramatisch erzürntes Mienenspiel geriet ins Stocken, als sie Lissa ins Gesicht sah. „He, was ist los?“
Lissa blickte zu Tatiana hinüber, dann drehte sie sich wieder zu Avery um und fand Trost in den blaugrauen Augen ihrer Freundin. „Ich muss hier raus.“ Lissa atmete tief ein, um sich zu beruhigen. „Erinnerst du dich an all die tollen Sachen, von denen du behauptet hast, du wüsstest über sie Bescheid? Wann soll’s losgehen?“
Avery lächelte. „Wann immer du willst.“
Ich kehrte zu mir selbst zurück, wie ich so alleine am Straßenrand saß. Meine Gefühle waren nach wie vor total aufgewühlt, und ich kämpfte gegen Tränen an. Meine früheren Zweifel hatten sich bestätigt: Lissa brauchte mich nicht mehr … und doch hatte ich das ungute Gefühl, dass irgendetwas ganz Merkwürdiges vor sich ging, etwas, dass ich noch nicht genau bestimmen konnte. Ich vermutete, dass sie womöglich Schuldgefühle wegen Mias Bemerkung hatte oder dass die Nebeneffekte des Geistelements sie quälten – aber was auch immer … sie war nicht mehr dieselbe Lissa.
Ich hörte Schritte auf dem Pflaster und blickte auf. Wenn ich überhaupt erwartet hätte, dass mich jemand fand, dann hätte ich mit Abe gerechnet oder vielleicht mit Viktoria. Aber es war keiner von beiden.
Es war Jewa.
Die alte Frau stand plötzlich da, ein Umhängetuch um die schmalen Schultern geschlungen, und schaute mit ihren scharfen, schlauen Augen missbilligend auf mich herab. Ich seufzte.
„Was ist passiert? Ist Ihrer bösen Hexenschwester etwa ein Haus auf den Kopf gefallen?“, fragte ich. Mitunter hatte so eine Sprachbarriere ja auch gewisse Vorteile. Sie schürzte die Lippen.
„Sie können nicht länger hierbleiben“, sagte sie.
Mir klappte der Unterkiefer herunter.
„Sie … Sie sprechen Englisch?“
Sie schnaubte. „Natürlich.“
Ich sprang auf. „Und die ganze Zeit haben Sie so getan, als könnten Sie es nicht? Sie haben Paul den Übersetzer spielen lassen?“
„So ist es einfacher“, sagte sie schlicht. „Man vermeidet eine Menge lästiger Gespräche, wenn man die Sprache nicht spricht. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass Amerikaner die lästigsten Gesprächspartner überhaupt sind.“
Ich war regelrecht empört. „Sie kennen mich doch nicht einmal! Aber vom ersten Tag an haben Sie mir die Hölle heißgemacht. Warum? Warum hassen Sie mich so?“
„Ich hasse Sie nicht. Aber ich bin enttäuscht.“
„Enttäuscht? Inwiefern?“
„Ich habe geträumt, dass Sie kommen würden.“
„Davon habe ich gehört. Träumen Sie viel?“
„Manchmal“, antwortete sie. Das Mondlicht funkelte in ihren Augen und verstärkte ihre irgendwie außerweltliche Erscheinung noch. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. „Manchmal sind meine Träume wahr. Manchmal nicht. Ich habe geträumt, Dimka sei tot, aber ich wollte es nicht glauben, nicht bevor
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