Vampire Earth 3 - Donnerschläge
nicht.
Zentimeter für Zentimeter zog er sich zwischen den Tabakpflanzen zurück. Nun, da Chaos auf dem Thron des Gespensts Platz genommen hatte, musste sein Reich ins Wanken geraten, bis es reif zur Übernahme wäre. Zeit für ihn und Ahn-Kha, den Zusammenbruch zu beschleunigen. Während er über das Feld krabbelte, schirmte der frisch gesättigte Schlächter das Gesicht vor der Sonne ab und verzog sich tiefer in den Schatten.
»Das ist also der weinende Mann.«
Wenn Obede über eins achtzig groß war, dann höchstens um Haaresbreite. Und sie hatte auch keine vier Brüste. Allerdings war unter ihrer gewebten Robe - farbenprächtig wie der Rock des Josef aus dem Alten Testament - genug Fleisch, dass es aussah, als hätte sie ein zweites Paar. Ihre Haut hatte die Farbe von Milchtee und
war voller Leberflecken. Das dichte, graue Haar über der faltigen Stirn trug sie zu straffen Zöpfen geflochten. Beim Gehen benötigte Obede die Unterstützung zweier Männer - ihrer Söhne, wie Valentine bald erfahren sollte - und zweier Krücken.
Das Gespenst war seit zweiundzwanzig Stunden tot, und seine Herrschaft schmolz wie Eis in der karibischen Sonne. Kapitän Utari hatte Valentine und Ahn-Kha zu einem Dorf am Wegesrand gebracht, hinter dem sich die Berge blaugrün und von Wolkenschatten gefleckt gen Himmel streckten. Leise hallte Gewehrfeuer aus Richtung der Hauptstraße nach Kingston herbei. Bewaffnete Jamaikaner aller Art, von blauäugigen Skandinaviern bis hin zu Schwarzafrikanern mit glänzender Haut, drängten sich in die Schatten des Dorfes. Die meisten hatten Macheten bei sich, einige auch alte Gewehre. Der Geruch von geröstetem Mais, Schweine- und Pferdefleisch stieg von Lehmund Steinöfen und Ölfässern auf, die als Grill dienten. »Zwei der Kernels haben die Männer auf Obedes Befehl hergeholt«, erklärte Utari.
»Nicht genug. Nicht genug für die Stadt, die ich gesehen habe«, sagte Ahn-Kha. Er, die Grogs von der Thunderbolt und Utaris Männer hatten sich in den Außenbezirken von Kingston versteckt gehalten.
»Da kommen jeden Tag mehr. Und vergesst unsere Männer und die Stadtleute nicht. Wir ha’m alle auf den Tag der Befreiung gewartet. Als Obede versprochen …«
»Prophezeit, meinen Sie?«, fiel ihm Valentine ins Wort.
»Eine Prophezeiung von Obede ist ein Versprechen, weinender Mann. Sie sind der Beweis.«
Sie betraten ein weiß getünchtes Ziegelhaus in der Mitte der einzigen Straße des Dorfes, eines vielleicht zwanzig Meter langen Asphaltbandes, das in eine Schotterpiste überging. In dem gedämpften Licht, das durch die Fensterläden
hereindrang, traf Valentine unter einem bunten Deckengemälde, auf dem Feldfrüchte, Bäume, Vögel und Frösche zu sehen waren, auf die Kernel. Die Besitzerin des Hauses nahm sie mit einer Umarmung in Empfang, ehe sie sich samt ihrer Familie wieder den Ehrbezeugungen gegenüber Obede widmete. Ein sonderbar kostümiertes Gefolge flankierte das Orakel. Einer trug etwas, das nach den letzten Resten eines alten Priestergewands aussah; der andere steckte in einem ärmellosen grünen, militärischen Mantelkleid, an dessen Schulterstücken goldene Quasten und gelbe Litzen baumelten.
»Danke, Jungs«, sagte Obede, als sie Valentine sah. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Valentine schüttelte sie und berührte dabei einen schweren Ring an ihrem Zeigefinger, in dem ein erbsengroßer Edelstein prangte.
Er sah noch einmal hin, versuchte, die Inschrift zu entziffern, als Ahn-Kha ihre Hand auch schon mit seinen langen Fingern umfasste.
»Yale. Muss Jahrgang’23 gewesen sein«, erklärte Obede und reckte die Hand mit den arthritisch geschwollenen Knöcheln vor.
Der Ring war hübsch, sah aber aus wie ein Herrenring. Valentine wusste nicht recht, was er sagen sollte, also bediente er sich einer Frage, die sein Vater den Akademikern der Alten Welt gestellt hätte. »Was haben Sie studiert?«
»Jura, Grundstudium. Hab richtig gebüffelt für meine Eignungsprüfung.«
Valentine war verwirrt. »Sie mussten erst eine Prüfung ablegen, um zum Lernen zugelassen zu werden? Hört sich unsinnig an.«
»Das ist eine lange Geschichte, aber es ist nicht wichtig. Allerdings hat es mir nicht geschadet, dass mein Vater Vizepräsident bei General Mills war. Als Studienanfängerin hatte ich im Hauptfach Ethnologie belegt. Die Rebellion
des verhätschelten Kindes. Dann habe ich den Universitätsbetrieb kennengelernt. Im zweiten Studienjahr wusste ich, was ich wollte, also habe ich das
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