Vampire küssen besser
Telefonnummer hatte mich zur Fern Hall, Tunkhannock Avenue, Exeter, Pennsylvania geführt – Bonnys Landsitz.
Der eingegangene Anruf, den ich verfolgt hatte, war von einem Limousinen-Service gekommen, wahrscheinlich um eine Abholung zu bestätigen. Allerdings musste ich noch ergründen, ob der Wagen nach dem Tod von Issa und Tanya in Anspruch genommen worden war, beispielsweise von jemandem, der eine Arzttasche mit Rohdiamanten im Wert von zweihundert Millionen Dollar bei sich trug. Ich hoffte, es war Bockerie. Darius konnte es nicht gewesen sein. Ausgeschlossen.
Als ich am Flatiron-Gebäude die Treppe von der U-Bahn zur Straße hochstieg, bedeckten zarte Schneeflocken mein Gesicht mit sanften Küssen, doch der Wind war so kalt, dass ich zitterte. Mit eisigen Fingern drückte er auf meinen Hals und rief die Erinnerung an die Hände wach, die mich am Abend zuvor umklammert hatten.
Auf der Fahrt durch Manhattan hatte ich überlegt, worüber ich mit J reden und was ich ihm verschweigen wollte. Ob ich ihm von den Telefonnummern erzählen sollte, die ich mir in Bonaventures Wohnung aufgeschrieben hatte? Wusste er etwas von Louis? Wenn nicht, würde ich Benny nicht verpfeifen. Ob er wegen des toten Diamantenlieferanten sauer war? War anzunehmen. Schob er dafür Benny oder mir die Schuld in die Schuhe? Konnte man von ausgehen. Er hatte ja ohnehin keine hohe Meinung von uns, jedenfalls nicht von mir. Wusste er, wer Schneibel umgebracht hatte? War ihm überhaupt bekannt, dass er tot war? Wusste er, wer Issa und Tanya ermordet hatte? Alles in allem hatte die letzte Nacht vier Leichen ergeben. Beinah schon ein Massaker. So viele Tote in einer Nacht hatte ich seit dem Osteraufstand von 1916 nicht mehr gesehen, und damals herrschten andere Zustände. Noch immer dachte ich voller Hass an das Black-and-Tan-Kontingent der britischen Regierung. Großmütiges Vergeben und Vergessen liegen mir nicht, und auch meine Loyalitäten verblassen nicht mit der Zeit.
Mit diesen Gedanken beladen, fuhr ich in dem langsamen, altmodischen Fahrstuhl des Flatiron hoch zu »meinem« Büro, einem Raum, in dem ich seit Beginn meiner jüngsten Laufbahn nicht einmal eine Minute verbracht hatte. Als ich ihn betrat, stand J am Fenster, ähnlich wie bei unserer ersten Begegnung: kerzengerade Haltung, makellose Kleidung, frisch gebügeltes Hemd, Hose mit messerscharfen Bügelfalten und Schuhe, in denen man sich spiegeln konnte. Ein Offizier, wie er im Buche stand. Mein Magen verkrampfte sich, und meine Muskeln spannten sich an. Mir fiel wieder ein, wie wütend dieser Mann mich gemacht wie abscheulich er mich behandelt hatte. Wie zwei Hunde, die denselben Baum anpinkeln wollen, stierten wir uns jedes Mal an.
»Hermes«, sagte J müde. »Setzen Sie sich.« Ungehalten klang er nicht. Das war schon mal ein Plus.
Ich entledigte mich meiner Jacke und ließ mich auf einen Stuhl sinken. Über die vergangene Nacht hatte ich noch keinen Bericht geschrieben. Vielleicht war das besser so, denn sonst hätte ich zu viele Lügen fabrizieren müssen.
J trat näher und hockte sich mit einer Pohälfte auf die Tischkante. Irgendetwas an ihm war anders als sonst, das erkannte ich an der Art, wie er mich ansah. Der Zorn und die Feindseligkeit waren verschwunden. Seine Gefühle hielt er noch immer fest unter Verschluss, und seine Augen waren nach wie vor kalt und blau, doch nun erinnerte er mehr an den jungen Gregory Peck in dem alten Film
Wer die Nachtigall
stört
– knochig, aufrichtig, unbestechlich. Vielleicht war er aber auch ein meisterhafter Manipulator, der sich verstellte, um mich wie ein Puppenspieler zu lenken.
Als er zu reden begann, war seine Stimme leise und freundlich. »Zunächst einmal möchte ich betonen, dass, sosehr ich auch gegen die Gründung des Teams Dark Wing war, wir ohne Sie die Informationen, die wir inzwischen haben, nicht erhalten hätten. Darüber hinaus muss ich gestehen, dass wir es gestern Abend nicht geschafft haben, unser Einsatzkommando rechtzeitig zu Bonaventures Wohnung zu schicken. Das war anders geplant, doch offensichtlich ist bei der internen Kommunikation etwas schiefgelaufen. Wären Sie und Benny diesen Männern nicht nach New Jersey gefolgt, hätten wir ziemlich blass ausgesehen.«
»Na ja, tut mir leid, dass es dann doch noch zu dieser Bescherung kam«, erwiderte ich. Offenbar wusste er nichts von Louis. War mir nur recht, denn das zu beichten war Bennys Angelegenheit.
»Sie haben getan, was erforderlich war«, fuhr J
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