Vampire's Kiss
ihn war. Ich hatte geglaubt, unser Abschied sei endgültig, doch als ich ihm nun unvermittelt gegenüberstand, schwappte eine Woge der Erleichterung über mich hinweg. Schwindel erfasste mich, und am liebsten hätte ich mich in seine Arme geworfen.
Dann erst merkte ich, dass er leichenblass war. »Alles okay mit dir?«, fragte ich.
»Ich muss dich sprechen«, entgegnete er düster.
Auf dem Weg nach draußen bemühte ich mich, seine Anspannung zu durchbrechen. »Wetten, dass du nicht mit meiner Rückkehr gerechnet hast …?«
Aber er ging nicht auf meinen lockeren Tonfall ein. »Im Gegenteil, Annelise. Ich bin heilfroh, dich unversehrt zu sehen.«
» Wow … okay. Vielen Dank.« Ich ließ meiner Antwort ein verlegenes Schweigen folgen.
Er schlug den Weg zum Acari-Wohnheim ein. Sein Gesicht war immer noch aschfahl. Schließlich blieb er stehen und wandte sich mir zu. »Amanda ist tot.«
Das kam ohne jede Vorwarnung. »Amanda – was?«
»Deine Betreuerin Amanda. Man fand ihren Leichnam heute Morgen. Sie wurde umgebracht. Zerstückelt.«
Das grausige Detail unterstrich die bittere Wahrheit. Zerstückelt . Allein das Wort war grässlich. Unvorstellbar. Der Boden unter meinen Füßen wankte. Ich fiel und fiel, obwohl ich aufrecht dastand und spürte, wie mir ein Frösteln über den Rücken lief.
Ich starrte ihn an. Wartete darauf, dass er seine Worte zurücknahm. Wartete darauf, dass die schauerlichen Worte Sinn und Bedeutung bekamen. »Wie konnte das geschehen?«
»Sie versuchte zu fliehen. Und scheiterte dabei.«
Ich umgab mich mit einem Panzer, bemühte mich um Gleichgültigkeit. Schließlich besaß ich Erfahrung in solchen Dingen. Ich hatte schon früher Mädchen sterben sehen. Alcántara hatte mich davor gewarnt, hier auf der Insel Freundschaften zu schließen. Amanda war nur die erste mir nahestehende Person, die ich verlor. Und tatsächlich hatte ich sie nicht als Busenfreundin, sondern eher als freundliche Betreuerin wahrgenommen.
Aber der Panzer hielt nicht dicht. Selbst wenn Jahre vergingen, selbst wenn ich irgendwann die Wächter-Stufe erreichte – eine solche Nachricht würde mich niemals kalt lassen.
Eine Fülle von Gedanken und Bildern drang auf mich ein, völlig ungeordnet. Wie sie mich unter ihre Fittiche genommen hatte. Wie sie in ihrem Tee rührte. Wie sie morgens ihren Joghurt löffelte. Wie sie mich von Anfang an Schätzchen genannt hatte.
Am meisten erschütterte mich allerdings, dass sie allem Anschein nach so eng mit dem Leben hier verbunden gewesen war – und sich in ihrem Innersten doch ebenso unglücklich gefühlt hatte wie ich.
Sie war mit ihren Gedanken so weit weg gewesen, als ich sie das letzte Mal getroffen hatte. Und wir hatten es nicht geschafft, die Kluft zu überbrücken. Nun fühlte ich mich schuldig, obwohl ich wusste, dass das lächerlich war. Dennoch hatte ich die absurde Vorstellung, dass ihr Schicksal eigentlich für mich bestimmt gewesen war. Dass ich diejenige war, die den Fluchtversuch hätte unternehmen sollen. Dass mir das Scheitern vorbestimmt gewesen war. Und der Tod.
Ich suchte in Ronans Zügen nach einer Antwort, aber sein Gesicht blieb eine starre Maske, der ich nichts entnehmen konnte. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie hatte ihr Plan ausgesehen? Wo hatte sie einen Fehler begangen? »Wie wollte sie –« Aber mit einem Mal durchzuckte es mich. Sie hatte Helfer gebraucht. »Dieser Schlüssel . Es hat etwas mit dem Schlüssel zu tun, den sie von dir bekam, nicht wahr? Du wolltest sie bei ihrer Flucht unterstützen.«
Sie hatten gemeinsam fliehen wollen. Eifersucht fraß sich durch meine Adern, zersetzte die Schuldgefühle wie mit einer scharfen Säure. Ich fühlte mich mehr denn je als Außenseiterin. Mir hatte Ronan nie seine Hilfe für eine Flucht angeboten. Himmel, er allein hatte es zu verantworten, dass ich mich hier befand.
»Er öffnete das Tor zu einer Steganlage auf der anderen Seite der Insel«, sagte er. »Nur dass Amanda es nicht bis dorthin schaffte. Ihr Leichnam wurde am Fuß einer der südwestlichen Klippen gefunden. Man hat sie gefoltert und dann in die Tiefe gestoßen.«
Das Blut wich aus meinen Wangen. Ich kannte einen Vampir mit einer besonderen Vorliebe für Foltermethoden.
Ich fuhr mir nervös mit einer Hand durch die Haare. Es hatte keinen Sinn, voreilige Schlüsse zu ziehen. Auf der Insel wimmelte es von Vampiren. »Man folterte sie, weil sie zu fliehen versuchte?«
»Man folterte sie, um an Informationen zu
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