Vampirgeflüster
nicht fähig, meine Wut zu unterdrücken.
»Ich konnte nicht anders«, wiederholte er, und dann ging die Badezimmertür endlich auf. Ich trat ein paar Schritte zurück. Tray sah furchtbar aus, und er stank entsetzlich. Er trug Pyjamahosen, sonst nichts, und ich hatte eine enorm breite, behaarte Brust genau auf Augenhöhe. Sein ganzer Körper war von einer Gänsehaut überzogen.
»Wie kann das sein?«
»Ich konnte nicht... nicht widerstehen.« Er schüttelte den Kopf. »Und dann bin ich hierher zurückgekommen und zu Amelia ins Bett gegangen. Ich hab mich die ganze Nacht bloß gewälzt und war schon auf, als der K... als Bubba nach Hause kam und sich im eingebauten Schrank zur Ruhe gelegt hat. Er hat irgendwas von einer Frau gesagt, mit der er gesprochen hat, aber da ging's mir schon so schlecht, dass ich vergessen hab, was genau er gesagt hat. Hat Bill die hergeschickt? Hasst er dich so sehr?«
Ich sah auf, und unsere Blicke trafen sich. »Bill Compton liebt mich«, sagte ich. »Er würde mir nie etwas antun.«
»Selbst jetzt, wo du's mit dem großen Blonden treibst?«
Amelia konnte einfach nicht den Mund halten.
»Selbst jetzt, wo ich's mit dem großen Blonden treibe.«
»Die Gedanken der Vampire kannst du nicht lesen, sagt Amelia.«
»Stimmt. Aber es gibt Dinge, die weiß man einfach.«
»Okay.« Obwohl Tray nicht mehr genug Energie hatte, um skeptisch dreinzublicken, versuchte er es immerhin. »Ich muss ins Bett, Sookie. Ich kann heute tagsüber nicht auf dich aufpassen.«
Das konnte ich sehen. »Warum fährst du nicht nach Hause und versuchst, dich in deinem eigenen Bett auszuschlafen?«, fragte ich. »Ich gehe in die Arbeit, dort habe ich sowieso Leute um mich.«
»Nein, du brauchst einen Bodyguard.«
»Ich rufe meinen Bruder an«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Er arbeitet im Moment nicht, und er ist ein Werpanther. Er sollte in der Lage sein, mir Rückendeckung zu geben.«
»Okay.« Es war ein Anzeichen dafür, wie schlecht es Tray ging, dass er keine Diskussion begann, denn er war nicht gerade Jasons größter Fan. »Amelia weiß, dass es mir nicht gut geht. Wenn du sie vor mir sprichst, sag ihr, dass ich sie heute Abend anrufe.«
Wankend ging der Werwolf zu seinem Pick-up hinaus. Ich hoffte, er würde heil nach Hause kommen, und rief ihm noch etwas Entsprechendes hinterher. Doch er winkte nur und fuhr die Auffahrt hinunter.
Seltsam benommen sah ich ihm nach. Einmal im Leben hatte ich umsichtig gehandelt und Leute angerufen, die mir noch einen Gefallen schuldeten, damit sie mir Schutz gewährten. Doch es hatte überhaupt nichts genützt. Zwei Fanatiker, die mich nicht im Haus angreifen konnten - wegen Amelias gutem Schutzzauber vermutlich -, hatten auf anderem Weg versucht, meiner habhaft zu werden. Murry war draußen im Garten aufgetaucht; und nun hatte sich im Wald eine Elfe an Tray herangemacht und ihn gezwungen, Vampirblut zu trinken. Er hätte wahnsinnig werden und uns alle töten können. Aber für die Elfen war es sowieso eine Win-Win-Situation, schätzte ich. Tray war zwar nicht wahnsinnig geworden und hatte auch mich und Amelia nicht getötet, doch jetzt war er so krank, dass er als Bodyguard eine ganze Weile ausfallen würde.
Ich ging die Diele entlang, um mich erst mal in meinem Schlafzimmer anzuziehen. Der heutige Tag würde schwierig genug werden, und ich konnte Krisen stets besser meistern, wenn ich angezogen war. Irgendwie fühlte ich mich gleich kompetenter, sobald ich Unterwäsche trug.
Den zweiten Schreck des Tages bekam ich, als ich gerade ins Schlafzimmer abbiegen wollte. Im Wohnzimmer hatte ich eine Bewegung wahrgenommen. Mir stockte vor Angst der Atem, und wie erstarrt blieb ich stehen. Auf dem Sofa saß jemand ... mein Urgroßvater. Es dauerte einen Augenblick, bis ich Niall erkannt hatte. Er stand auf und sah mich erstaunt an, während ich, mit der Hand auf dem Herzen, reglos dastand.
»Du siehst heute nicht sehr gepflegt aus«, sagte er.
»Na ja, ich habe keinen Besuch erwartet«, erwiderte ich atemlos. Er sah selbst nicht besonders gut aus, eine echte Premiere. Sein Anzug war voller Flecken und zerrissen, und wenn ich mich nicht allzu sehr irrte, schwitzte er. Mein Urgroßvater, der Elfenprinz, bot tatsächlich zum ersten Mal alles andere als einen prachtvollen Anblick.
Ich ging ins Wohnzimmer hinein und musterte ihn genauer. Es war noch früh am Tag, doch ich erlebte heute schon meine zweite Schockwelle. »Was ist los?«, fragte ich. »Du siehst
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