Vampirmelodie
Jason war noch nie in der Lage gewesen, den Mund zu halten, wenn er von etwas begeistert war. Wenn ich ihn angerufen und gebeten hätte, mir zu helfen, eine Tote in einen Müllcontainer zu hieven, wäre er in seinen Pick-up gesprungen und so schnell da gewesen, wie er fahren durfte.
Ich winkte meinem Bruder zu, als er händchenhaltend mit seiner Michele zur Tür hereinkam. Jason war noch schmutzig und verschwitzt nach einem langen, heißen Arbeitstag als Vorarbeiter einer Straßenbautruppe. Michele sah dagegen regelrecht flott aus in ihrem roten Poloshirt, das alle Angestellten der Ford-Autohandlung Schubert trugen. Sie waren beide im Hochzeitsfieber. Doch wie alle anderen in Bon Temps waren sie fasziniert von dem Tod einer ehemaligen Kellnerin des Merlotte’s.
Ich wollte nicht über Arlene reden, also kam ich ihnen zuvor und erzählte Michele, dass ich ein Kleid für die Hochzeit gefunden hatte. Ihre bevorstehende Heirat war wichtiger als alles andere, selbst als ein sensationeller Mord beim Parkplatz. Wie ich gehofft hatte, stellte Michele mir eine Million Fragen und wollte bald mal zu mir kommen, um einen Blick darauf zu werfen. Und sie erzählte mir, dass dieBaptisten von der Großen Liebe (der Kirche von Micheles Dad) bereit waren, ihnen Klapptische und -stühle für den Empfang in Jasons Garten zu leihen, bei dem jeder etwas zum Büfett mitbringen sollte. Eine Freundin von Michele wollte für das glückliche Paar als Hochzeitsgeschenk gern den Hochzeitskuchen backen, und die Mutter einer anderen Freundin würde zum Selbstkostenpreis die Blumen besorgen. Als die beiden ihre Mahlzeiten verspeist und ihre Rechnung bezahlt hatten, war das Wort »erwürgt« in unserem Gespräch nicht ein einziges Mal gefallen.
Das war die einzige Atempause, die ich den ganzen Abend hatte. Am Tag zuvor war die Anzahl der Gäste überschaubar gewesen, doch heute erzählten mir erstaunlich viele Leute, dass sie Arlene durch die Vordertür des Merlotte’s hatten hereinkommen sehen. Sie alle hatten persönlich mit ihr gesprochen, bevor sie sie ins Büro gehen sahen. Und sie hatten sie alle wieder hinausgehen sehen (entweder fünf oder fünfzehn Minuten später), so wütend, dass ihr quasi Dampf aus den Ohren quoll. Egal, wie sehr ihre Geschichten in anderen interessanten Einzelheiten voneinander abwichen, für mich war dies die wichtige Erinnerung: dass sie lebend und unverletzt gegangen war. Und wütend.
»Ist sie hergekommen, um sich bei dir zu entschuldigen?«, fragte Maxine Fortenberry. Maxine war hier, um mit zweien ihrer Freundinnen zu Abend zu essen, die auch Freundinnen meiner Großmutter gewesen waren.
»Nein, sie wollte einen Job«, erzählte ich so offen und ehrlich, wie mein Gesichtsausdruck es nur hergeben wollte.
Alle drei Frauen sahen erfreulich schockiert aus. »Nicht doch«, hauchte Maxine. »Sie besaß die Frechheit zu fragen, ob sie ihren Job wiederhaben kann?«
»Sie konnte nicht verstehen, warum nicht«, sagte ich,als ich ihre schmutzigen Teller abräumte. »Soll ich allen noch Eistee nachschenken?«
»Gern, bring uns doch den Krug«, sagte Maxine. »Du lieber Gott, Sookie. Das schlägt ja dem Fass den Boden aus.«
Damit hatte sie absolut recht.
Den nächsten freien Augenblick verbrachte ich damit, mir das Hirn darüber zu zermartern, wann ich mein blaugrünes Halstuch zuletzt gesehen hatte. Sam konnte sich daran erinnern, dass ich es mal zu einem schwarzen Kleid zur Kirche getragen hatte. Das musste eine Beerdigung gewesen sein, denn ich trug nicht gern Schwarz und reservierte es für die ernsten Anlässe. Aber wessen Beerdigung? Vielleicht Sid Matt Lancasters? Oder Caroline Bellefleurs? Ich war auf einigen Beerdigungen gewesen in den letzten paar Jahren, da Grannys Freunde immer älter wurden, doch auf diese beiden wäre Sam nicht gegangen.
Jane Bodehouse kam um die Zeit des Abendessens ins Merlotte’s und kletterte auf ihren üblichen Barhocker am Tresen. Ich spürte, wie meine Gesichtszüge sich anspannten und ich wütend wurde bei ihrem Anblick. »Du hast wirklich Nerven, Jane«, sagte ich unverblümt. »Warum willst du denn hier was trinken, wenn du von dem Brandbombenanschlag noch so beeinträchtigt bist? Ich kann gar nicht glauben, dass du’s erträgst, hier zu sein, nachdem du so gelitten hast.«
Einen Moment lang war sie überrascht, bis die Zahnräder in ihrem Hirn sich so weit gedreht hatten, dass sie sich wieder erinnerte, einen Rechtsanwalt angeheuert zu haben. Geflissentlich wandte sie
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