Vampirzorn
Wesens darstellte. All die Identitäten, die sich seinem Geist aufgeprägt hatten beziehungsweise von ihm absorbiert worden waren, ungefähr so, wie sein Protoplasma ihr Fleisch absorbiert hatte. Und genau wie sein metamorphes Fleisch hatte Angelo auch sie nicht mehr unter Kontrolle. Antonio begriff, was los war: Sein Vater hatte die Herrschaft über die zahllosen in ihm gefangenen Persönlichkeiten verloren!
»Aber wie ...?«, wollte er wissen, als das Geplapper nachließ und zu einem Hintergrundgemurmel abebbte.
Dieser »Harry«, wie du ihn nennst, ist daran schuld, antwortete das Ding in der Grube. Dieser Engländer, dieser Harry, mit Nachnamen Keogh. Seine toten Freunde nennen ihn »den Necroscope«, und ihre Zahl ist Legion! Weißt du, was ein Necroscope ist, Antonio, mein lieber Antonio?
Antonio war keineswegs ungebildet; jemand mit der Lebensspanne und Heimtücke eines Wamphyri kannte sich auf vielen Gebieten aus. »Ein Mann, der ... der sich die Toten ansieht?«, fragte er verwundert.
In der Tat! , erwiderte sein Vater. Und mehr, er spricht auch noch mit ihnen! Sagte ich das nicht von Anfang an? Der Mann, der in eure Schatzkammer einbrach, euer Eindringling, dieser Harry, ist ...
... NEIN!, brüllte ihn eine wütende Stimme nieder. LASST IHN NICHT AUSREDEN! DURCH SEINE VAMPIRSÖHNE BRINGT ER HARRY IN GEFAHR! Und die anderen fielen ein, eine wahre Flut mentaler Schreie drang aus der Grube.
Doch so einfach ließ Angelo, der sie ja alle in seinen psychischen Strudel eingesogen hatte, sich nicht übertönen. Er sandte seine Gedanken geradewegs in den Geist Antonios, dem mittlerweile der Kopf schwirrte: Mich, mich fürchteten sie, allein darum hatte ich sie im Griff. Sie hatten keinen blassen Schimmer, was ich ihnen vielleicht antun könnte oder wozu ich noch in der Lage wäre. Sie hatten Angst vor mir, weil sie meine Gefangenen waren und in mir festsaßen, so wie ich in dieser Grube hier, ohne jede Aussicht auf Rettung. Ihn hingegen, diesen Harry, ihn lieben sie. Weil er sie nämlich befreien möchte ... und zwar indem er mich umbringt! Und, Antonio, ach, mein Antonio, ganz gleich, was du alles über die Leidenschaften der Menschen erfahren hast und davon halten magst, die Liebe ist weit stärker als jede Angst.
»Vater«, erwiderte Antonio. Er versuchte, ähnlich wie Angelo, seine Gedanken zu konzentrieren, um den telepathischen Aufruhr, der sich gegen ihn erhoben hatte, zu durchbrechen. »Dieser Harry ist bereits so gut wie tot. Falls er wirklich der Einbrecher ist, der in unsere Schatzkammer eindrang, ist es nur eine Frage der Zeit. Morgen rede ich mit Francesco, dann setzen wir diesen Keogh ganz oben auf unsere Liste. Du sagst, er sei ein Necroscope – was, der Necroscope? – und spricht mit den Toten? Nun, glaub’ mir, bald wird er die beste Gelegenheit dazu haben!«
Du begreifst gar nichts, nicht wahr? , entgegnete sein Vater. Glaubst du mir überhaupt? Das bezweifle ich. Aber solche Kräfte, wie dieser Mann sie besitzt ... du hast nicht die geringste Ahnung, womit du es hier zu tun hast! Bis er auftauchte, stellte Radu Lykan die größtmögliche Bedrohung für uns dar, die größte jedenfalls, die wir uns vorstellen konnten. Doch dieser Mensch ...
Vor seinem geistigen Auge sah Antonio geradezu, wie er ungläubig den Kopf schüttelte. »Aber sagt das denn nicht alles, Vater?«, fragte er. »Ich meine, damit hast du doch eben alles gesagt! ›Dieser Mensch‹, so nanntest du ihn. Nun, und mehr ist er nicht, bloß ein Mensch. Wir hingegen sind Wamphyri!«
Er kann mit den Toten reden ... mit den Toten reden ... den Toten reden!, begann Angelo in einem fort vor sich hin zu plappern. Doch er riss sich am Riemen. Es waren nur seine multiplen Persönlichkeiten, die sich in seine Gedankengänge mischten. Er kann mit den Toten in ihren Gräbern reden, begann er erneut. Und das ganze Wissen dieser Welt befindet sich da unten bei ihnen!
»Aber selbst, wenn das, wovon du da sprichst, möglich wäre«, versuchte Angelo seinen Vater in eine brauchbare Richtung zu lenken, »was bringt einem schon das Wissen der Toten? Wie sollte es sich irgendjemand zunutze machen, um es für seine Zwecke einzusetzen?«
Angelo schnaubte verächtlich, enttäuscht, auf. Ha! Und ich dachte, bloß einer meiner Söhne sei ein Narr! Und noch ehe Antonio ihm widersprechen oder etwas darauf erwidern konnte, fuhr er fort:
Hör zu: Die Toten in ihren Gräbern unterhalten sich miteinander. Diesen Verdacht hegte ich bereits, als ich
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