Vampirzorn
mir als junger Mann die Theorien von Paracelsus angetan hatten? Als ich älter wurde, verwarf ich sie größtenteils wieder. Aber ich erinnere mich, als ich einunddreißig war, legte ich mein medizinisches Examen ab – mit Auszeichnung, wenn ich das sagen darf – und meine Dissertation war stark von Paracelsus beeinflusst. Die Überschrift beziehungsweise das Motto meiner Doktorarbeit stammte von Horaz:
»Multa renascentur, quae jam cecidere cadentque,
Quae nunc sunt in honore ...«
Kannst du Latein, Necroscope? Ah, nein! Eine dumme Frage! Jetzt ist es ja eine »tote« Sprache. Aber welche Sprache die Toten sprechen, ist für dich ja ohnehin einerlei.
»Und oft vermittelt die Totensprache weit mehr als nur das eigentlich Gesagte«, ergänzte Harry. »Sie dachten es zwar auf Latein, aber ich habe es trotzdem verstanden:
›Vieles wird sich wieder erheben, was seit Langem begraben war, und vieles vergessen werden, was man heute in Ehren hält!‹«
Er spürte, wie Mesmer nickte. Gerade heute ist das, will mir scheinen, von Bedeutung. Oder vielleicht nicht? Diese Worte könnte man auf dich beziehen – deine Entdeckungen, deine »Freunde« und deine Art, zu leben? –, auch wenn sie keinesfalls auf dich gemünzt waren und ganz gewiss nicht auf mich! Harry hörte ihn seufzen. Nur ein weiterer Widerspruch. Mein ganzes Leben war voll davon! Ich verhielt mich so gar nicht wie ... ein Gelehrter! So unprofessionell! Diese ständige Suche nach einem metaphysischen Mittel, um damit rein körperliche Leiden zu heilen. Ich glaubte tatsächlich daran. Darum ist meine Arbeit in Vergessenheit geraten und wird heute keineswegs mehr »in Ehren gehalten«. Offensichtlich lag ich mit all meinen Überlegungen völlig daneben. Aber wie seither bewiesen wurde, hatte ich durchaus fundierte Gründe für meine Gedankengänge. Ein kleiner Trost. Jedenfalls sehe ich keinen Anlass, das Ganze zu leugnen, denn geschämt habe ich mich nie dafür. Meine Annahmen und Systeme entsprangen ihrer Zeit, sie waren primitiv und meine Schlussfolgerungen inkorrekt.
»Tausenden von Menschen konnte mit Ihrer Hypnose geholfen werden«, erklärte ihm der Necroscope. »Sie waren der erste praktische Arzt, der das erkannte – wenn nicht gar erfand!«
(Ein unsichtbares Achselzucken Mesmers, allerdings wirkte es keinesfalls selbstgefällig, eher ein bisschen mutlos.) Es gab andere, die in derselben Richtung arbeiteten. Und »erfunden«? Wohl kaum! Die es zum ersten Mal anwandten, waren noch nicht einmal Menschen. Schlangen zum Beispiel ...
»... und Tintenfische? Ich habe davon gehört, dass sie Krustentiere, Krebse und dergleichen ›mesmerisieren‹, bevor sie sie fressen.«
Tatsächlich?
»Es hat den Anschein. Sie ziehen sie in ihren Bann, es geschieht durch den Blick oder vielmehr den Geist dahinter. Eine Art lebendiger Magnetismus. Haben Sie es denn nicht genauso genannt: ›animalische Anziehungskraft‹? Magnetismus, ja: Betörung beziehungsweise Hypnose. Es ist vor allem Ihr Beitrag dazu, den wir heutzutage anerkennen: Mesmerismus.« Er mochte ihm zwar Honig um den Bart schmieren, aber im Großen und Ganzen entsprach es auch der Wahrheit. Mesmers Beitrag zu den Wissenschaften, die sich mit dem menschlichen Geist – und in Harrys Fall der Vorherrschaft des Geistes über die Materie – beschäftigten, war zwar schon seit Langem überholt und in Vergessenheit geraten, dennoch war seine Arbeit bahnbrechend gewesen.
Meine Arbeit brachte den Menschen also etwas? Weißt du, Harry, in den letzten fünfundzwanzig Jahren meines Lebens – vor allem nachdem ich in die Schweiz zurückgekehrt war und mich quasi aus dem Berufsleben zurückgezogen hatte – interessierte ich mich nicht mehr für all die Entwicklungen und die ganzen Veränderungen in meinem Wissenschaftszweig. Ich verfolgte nichts mehr von dem, was da draußen vor sich ging. Meine Theorien waren stets durch und durch lächerlich gemacht worden, sodass sogar ich den Glauben daran verlor. Im Jahr 1814 veröffentlichte Wolfart mein Lebenswerk. Viel zu spät. Es war bereits alles veraltet.
Und im Tod war es nicht anders: Ich bin zu langsam, zu nachlässig, zu ... desillusioniert? Und jetzt sagst du mir, dass meine Arbeit doch von Nutzen war? Nun, um ehrlich zu sein, so ganz habe ich sie nicht ad acta gelegt. Seit du aufgetaucht bist, stehen die zahllosen Toten mehr denn je in Kontakt miteinander. Aber, wie gesagt, es hat mich nie so recht interessiert. Wie im Leben auch, habe ich stets nur
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