Vampirzorn
Gegenstück – diesmal allerdings eine Tür in die Zukunft. Er brauchte nicht zu erklären, worum es sich handelte, während er mit dem guten Doktor hinausblickte auf jedes nur erdenkliche Morgen. Myriaden neonblauer Leuchtfäden, die seufzend in eine sich immer weiter ausdehnende Zukunft jagten ... Funkelnd flammte neues Leben auf, saphirblau glühende Linien, die sich von den Fäden ihrer Eltern trennten, um allein weiterzurasen ... Andere verblassten und schwanden allmählich ... die erschöpften Linien alternder, sterbender Menschen ... Und der Lebensfaden des Necroscopen spulte sie immer weiter voran in die Zukunft, begleitet vom unaufhörlichen Seufzen des Engelschores: Ahhhhhhhh!
Diese blauen Linien, sagte Mesmer nach einer Weile leise. Ich weiß, was sie sind und weshalb ich keine habe.
Früher hatten Sie einmal eine, erklärte Harry. Damit beschwor er ein Tor an Mesmers Koordinaten herauf.
Und schwebte ich auch seufzend dahin und leuchtete so hell wie die hier?
»Heller«, entgegnete der Necroscope, während er mit Mesmer an dessen Grab aus dem Möbius-Kontinuum trat.
Glaubst du das, Harry? Wirklich? Mesmer sank hinab in sein Grab, das er nie mehr verlassen sollte.
»Ja, das glaube ich. Deshalb musste ich es Ihnen ja zeigen. Vielleicht war es genau das, wonach Sie suchten, ohne überhaupt zu wissen, worum es sich handelt.«
Mein Fluidum?
»Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht, aber es wäre durchaus möglich. Auch heutzutage befinden sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt noch immer auf der Suche nach einer großen vereinheitlichten Theorie.«
Aber wenn es sich so verhält, dann geht es ja um eine viel größere Sache, als ich mir jemals vorgestellt hätte! Ein unglaublicher Äther – ein gewaltiges Fluidum –, das Mond und Erde, Planeten, Sterne und die Sonne, Sonnen miteinander verbindet, ja sogar das Universum selbst, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und jedes Geschöpf, das sich darin befindet. Und all das im Geist ... eines Menschen?
Doch Harry schüttelte hastig den Kopf. Sich als der bedeutsamste Faktor einer derart großen Angelegenheit bezeichnen zu lassen, erschien ihm schon beinahe wie eine Blasphemie. »Nein, es ist auch ohne mich da, ich trete lediglich in Kontakt damit. Ohne es gäbe es mich allerdings nicht, nichts würde existieren.«
Der Necroscope konnte geradezu spüren, wie Mesmers Stimmung sich mit einem Mal hob. Es ist zwar nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt habe, meinte dieser, aber immerhin existiert es!
»Nun, vielleicht.« Harry blieb vorsichtig. »Ich meine, ich möchte Ihnen nichts vormachen. Ich bediene mich seiner, und bei mir funktioniert es auch, aber im Grunde habe ich keine Ahnung, was es überhaupt ist.«
Ganz wie bei mir, nickte Mesmer. Ich setzte meine ... meine hypnotischen Fähigkeiten, ja ... ebenfalls ein, ohne sie zu begreifen.
»Aber es funktionierte. Und es kann wieder funktionieren, und sei es nur dieses eine Mal. Das ist doch, was zählt!«
Du hast mir so vieles voraus. Und dennoch bittest du mich um Hilfe ...
»Sie waren die Nummer eins auf Ihrem Gebiet.«
Rein äußerlich nehme ich keinerlei Anzeichen einer psychischen Störung an dir wahr. Und von dem wenigen, das ich in deinem Geist gesehen habe ... scheint mir, Necroscope, bei dir ist alles in Ordnung!
»Aber genau das ist es nicht. Irgendjemand pfuscht in mir – in meinem Geist – herum, und es könnte durchaus eine Frage von Leben und Tod sein.«
Sagtest du »pfuscht« oder »pfuschte« in deinem Geist herum?
»Wie bitte?«
Kennst du irgendjemanden – oder stehst du mit jemandem in Verbindung –, der dir Schlechtes wünscht oder versuchen könnte, die Kontrolle über dich zu erlangen?
»Übernehmen Sie den Fall?« Harry vernahm gedämpfte Stimmen, diesmal von Lebenden. Es waren Leute auf dem Friedhof, er musste aufpassen. Je eher er hier fertig war, desto besser.
Ob ich den Fall übernehme? , erwiderte Mesmer, so als sei er überrascht über das Ansinnen. Nun, wie es aussieht, habe ich das bereits getan!
Harry überlegte. Hatte er regelmäßigen Kontakt zu jemandem, der ihm schaden wollte oder versuchen könnte, ihn zu kontrollieren? Seine Feinde? Immerhin hatte R. L. Stevenson Jamieson gesagt, er hätte welche. B. J. Mirlu? Nein, denn sie war ja ... unschuldig. Schon vor dem Gedanken daran schreckte er zurück.
ACH! GUTER GOTT IM HIMMEL!, rief Mesmer mit einem Mal aus, so plötzlich, dass es Harry durch und durch ging. Leise, in einem ungläubigen Flüstern,
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