Vampirzorn
wirklichen Laute, die zu Harry durchdrangen. Das Einzige, was er nun noch vernahm, war Mesmers Stimme:
GANZ RUHIG. RUHIG, RUHE DICH AUS, NECROSCOPE. LASS’ MICH EINFACH MEINE ARBEIT TUN. ICH WERDE JETZT VERSUCHEN, DEINE VERLETZUNG AUFZUSPÜREN UND ZU HEILEN.
Harry tat wie geheißen, öffnete seinen Geist und fühlte Mesmers starke mentale Sonde in die Tiefen seines Gedächtnisses vordringen.
Die Hände hingegen, die ihn sanft auf eine Trage hoben, spürte er nicht ...
Stimmen, die sich näherten und wieder verschwanden, kamen und gingen, ungefähr so wie ein Radiosender, der sich nicht richtig einstellen lassen will. Harry erkannte die Stimme seiner Mutter, die flehentlich darum bat, dass irgendjemand ihm helfen möge! Und Doktor Franz Anton Mesmer, der versuchte, sie zu beschwichtigen. Doch es war alles so fern und verschwommen, so wirr, als befände er sich nach einem Trauma im Tiefschlaf. Beziehungsweise als stünde er ...
... unter dem Einfluss von Hypnose.
Aber das war doch nur ein Teil davon! Harrys Mutter klang beinahe hysterisch. Und nun musst du zugeben, dass ich recht hatte, Keenan. Hätten wir Harry ... hätte mein Sohn die ganze Wahrheit erfahren, alles, was wir wissen, und auch noch auf einmal – was dann? Und wenn Mesmer jetzt nicht zugegen wäre, um ihm beizustehen – was würde dann aus meinem Sohn werden? Und alles nur wegen einer Andeutung, wegen des bloßen Verdachts, dass diese B. J. etwas anderes sein könnte, als sie vorgibt! (Vor seinem geistigen Auge konnte der Necroscope regelrecht sehen, wie seine Mutter die Hände rang.)
Mary! , entgegnete Sir Keenan Gormley. Mary! Mesmer ist doch da! Deshalb haben wir nicht eingegriffen – weil wir wussten, dass Harry, sollte etwas schiefgehen, in den bestmöglichen Händen ist.
Schließlich mischte auch Mesmer sich ein. Überlassen Sie das getrost mir! , sagte der gute Doktor zu ihnen – und zu jedem, der mithörte, und zwar mit einer solchen Autorität, dass jedem klar war, dass er den Glauben an sich selbst wiedergewonnen hatte. Überlassen Sie das bitte mir. Da anscheinend ich derjenige bin, der den Anfall ausgelöst hat, sollte ich wohl auch alles wieder gerade rücken! Ah, wärst du doch nur gleich zu mir gekommen ...
Aber wir konnten doch nicht ahnen, dass er Sie aufsuchen würde! , wandte Keenan Gormley ein. Wir machten lediglich Vorschläge und Andeutungen und rieten ihm, auf unsere Art, zu einem Experten zu gehen. Nicht eine Sekunde lang hatten wir auch nur die geringste Ahnung davon, dass er den größten aller Hypnotiseure aufsuchen würde! Als es so weit war – als uns klar war, dass er sich nach Meersburg aufmachen wollte –, blieb uns kaum noch Zeit. Und das Letzte, was wir wollten, war, dass er es sich anders überlegt.
Nun, das hat er ja auch nicht, sagte Mesmer, er kam tatsächlich. Aber ich für mein Teil bezweifle, dass dies ein Zufall war. Immerhin habe ich einen Blick in seinen Geist geworfen – und was ich dort sah, war erstaunlich! Mir scheint, für Harry sind Vergangenheit und Zukunft eins, und ich glaube, dass sein Besuch Vorsehung war. Oder hat er ihn selbst vorhergesehen?
Schon möglich, warf Harrys Mutter ein. Offenbar hat er zumindest ein Überbleibsel von Alec Kyles Talent geerbt.
Genau! , pflichtete Sir Keenan ihr bei. Ebendeshalb mache ich mir auch nicht so große Sorgen um ihn wie du – weil ich nämlich fest auf seine Fähigkeiten vertraue. Auf die Fähigkeiten des E-Dezernats insgesamt, meine ich. Und ich habe allen Grund dazu! Mein ganzes Leben lang ließen sie mich so gut wie nie im Stich, und Harry ... auch seither nicht.
Was er sagte, kam zwar von Herzen, war aber nicht allzu diplomatisch. Dafür gab sich Harrys Mutter, die nun wesentlich ruhiger wirkte, umso diplomatischer. Du bist zwar aufrichtig, Keenan, meinte sie, aber trotzdem mache ich mir Sorgen. Denn so, wie das E-Dezernat dein Kind war, ist Harry meins. Und gerade darum sorge ich mich um ihn!
Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen, das Mesmer schließlich brach: Na ja, nun, da Sie mir etwas über seine Probleme erzählt haben, kann ich vielleicht hinter das Rätsel kommen. Harry vertraut mir; im Schlaf steht mir sein Geist offen; ich habe nicht nur Zugang, sondern auch seine Einwilligung dazu. Allerdings gibt es dort auch Dinge – oder vielmehr Ereignisse, Erinnerungen –, die verborgen, verboten sind, an die man nicht so ohne Weiteres herankommt. Zumindest ich nicht. Harrys »Verletzungen«, die Blockaden in seinem
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