Vampirzorn
in seinen Visionen, dem Hunde-Lord von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden – an diesem Punkt war der Traum plötzlich in einen Albtraum umgeschlagen. Darum ging Harry nun kein Risiko ein. Die Armbrust im Anschlag, erhob er sich Stück für Stück, um vorsichtig in den Sarg zu spähen. Ihm bot sich der gleiche Anblick wie zuvor Francesco. Aber nirgends eine Spur von Radu ...
... Erst als sich eine gut und gern zwanzig Zentimeter breite Pfote mit Klauen, so lang wie die Zinken einer Heugabel, in seine Schulter grub – allerdings nur in die Kleidung, ohne die Haut zu verletzen, schließlich hatte der Hunde-Lord nicht vor, seinen zukünftigen Körper mit der Pest zu infizieren – und ihn umdrehte, sah er Radu! Er war hinter seinem Sarkophag aufgetaucht und kauerte nun wie ein grotesker Wasserspeier auf dem Gewirr aus Granitplatten am Kopfende des Sarges. Nur wenige Zentimeter von der überraschten Miene des Necroscopen entfernt bohrten sich zwei riesige, dreieckige gelbe Augen, in deren Innerem es blutrot glomm, suchend in sein Gesicht. Radus Atem war heiß und stank nach geschmolzenem Kupfer.
» Ahhh! Der Geheimnisvolle!« Verwundert, ungläubig beinahe öffnete sich das gewaltige Maul zu einem verzerrten, sabbernden Lächeln. » Mein Geheimnisvoller ...«
Harry gelang es nicht, die Armbrust zwischen ihn und sich zu bringen. Eng an den Rand des Sarkophages gepresst, unternahm er den Versuch dazu und erhielt dafür einen leichten Klaps mit der freien Pranke des Ungeheuers, der ihm fast das Handgelenk brach und die Armbrust wegschleuderte. Harry wusste, dass er ein toter Mann war. Radu hielt ihn wie ein kleines Kind fest im Griff. Er könnte zwar ein Möbiustor heraufbeschwören, wäre aber unfähig, auch nur eine einzige Bewegung zu machen, um hindurchzugehen. Ihm war klar, dass er so gut wie tot war. Der Hunde-Lord hingegen wusste nur, dass er lebte, und hielt den Blick unverwandt auf ihn gerichtet.
Seine Augen fixierten Harry, hielten ihn fest, fester als die mächtige Pranke. Harry spürte, wie er gehalten wurde, merkte, wie die Spannung in seinen Muskeln nachließ und sein Atem sich immer mehr beruhigte. Zuletzt fühlte er das Tasten, mit dem Radu Zugang zu seinem Geist suchte!
Dr. James Andersons posthypnotische Einschränkungen waren aufgehoben; und vor einem so mächtigen Telepathen wie Radu lag Harrys Innerstes da wie ein offenes Buch. Radu sah alles und sog es innerhalb weniger Augenblicke in sich auf:
Necroscope ...
Er spricht mit den Toten und vermag, sie aus ihren Gräbern zu rufen!
Er bewegt sich im Raum zwischen den Räumen – und kann sich in Gedankenschnelle von einem Ort zum andern begeben!
Er ist ein Mensch der modernen Welt und begreift all ihre Technologien und wissenschaftlichen Wunderwerke. Doch nichts davon, auch keine Wissenschaft, vermag, ihn zu erklären, geschweige denn zu verstehen!
Er weiß Bescheid über die Wamphyri ... hat sogar schon Angehörige unserer Art, Drakuls und Ferenczys, vernichtet, getötet!
Er weiß, wo all meine Feinde aus grauer Vorzeit sich aufhalten, wo in dieser Welt sich ihre Machtbasen und Stätten befinden!
Er ist mein Geheimnisvoller!!!
Allerdings nicht länger geheimnisvoll ...
»Nun, Necroscope«, knurrte Radu. Es war ein leises Grollen, das tief aus seiner Kehle drang, während seine Augen aus Harrys gebanntem Blickwinkel immer größer wurden. »Nun verrate mir eines: Gibt es in deinem wunderbaren Geist Platz für uns beide? Na ja, für kurze Zeit wenigstens?«
»Radu!« Wie ein Peitschenknall zerschnitt der Ruf die Stille in der riesigen Höhle. Der Hunde-Lord fuhr aus seiner geduckten Haltung hoch und ruckte, sich zu seiner vollen Größe von weit über zwei Metern aufrichtend, herum, um nachzusehen, wer da nach ihm rief. Doch nach wie vor ruhte seine gewaltige Pranke auf Harrys Schulter, und dem Necroscope blieb nichts anderes übrig, als in Radus Griff dazuhängen, benommen wie ein Hase, den sich der Jäger geschnappt hat. Benommen machte ihn in erster Linie allerdings der telepathische Zusammenstoß, der ihn völlig auslaugte.
Unten am Fuß der Plattform hob Francesco Francezci – oder vielmehr der Ferenczy – seine Maschinenpistole und zog grinsend den Abzug durch. Radu las in seinen Gedanken, was er vorhatte.
»Oh, nein!«, jaulte er auf. »Nicht jetzt! Neeeeein!« Doch die Kugeln vermochte er nicht aufzuhalten.
Das abgehackte Hämmern der Salve aus Blei und Silber war an sich, auch ohne den vielfach zurückgeworfenen
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