Vampirzorn
Drakesh konnte ihnen dort vielleicht eine, allerdings kurze Audienz gewähren, aber sie durften nicht davon ausgehen, dass er sie dort übernachten ließ. Doch damit würde ohnehin niemand rechnen. Die Anlage war nicht darauf ausgelegt, Fremden irgendwelche Annehmlichkeiten zu bieten ...
Während Drakesh dies und noch ganz andere Dinge durch die Abgründe in seinem Kopf gingen, war er einer beschwerlichen Route hinauf zum Dach des Klosters gefolgt. Nun stand er hier in der Nacht unter einem Firmament voller glänzender Sterne und spürte, wie ihm der Wind sein flatterndes rotes Gewand gegen den spindeldürren Leib wehte. Irgendwann – vielleicht schon bald – musste er seine Talente zur Gänze erproben. Dann würde er seinen Körper zu einem Luftsegel formen und von hier aus losfliegen. Immerhin waren die Drakuls einst für ihre Flugkünste berühmt gewesen, und sein Vater, Egon, hatte es darin zur Meisterschaft gebracht. Man musste ihn einfach gesehen haben, wie er damals, in Transsilvanien, hoch oben über den Zinnen seines Schlosses wie eine Fledermaus seine Kreise gezogen hatte ... ein wahrhaft erhabener Anblick!
»Wenn die Zeit kommt, wird all dies dir gehören«, hatte der Graf zu ihm gesagt. »Alles! Sei mir ein treuer Sohn und hüte meine Feste, solange ich weg bin, und auch du kannst eines Tages ein Wamphyri sein!« Und bevor er seine Reise nach England antrat, hatte er den Pakt besiegelt, indem er ihm mit einem liebevollen väterlichen Kuss sein Ei weitergab. Ein kurzer Augenblick unerträglichen Schmerzes ... und als Drakesh das Bewusstsein wiedererlangte, war sein Ei-Vater bereits abgereist. Es dauerte keine zehn Tage, da war auch Drakesh verschwunden, aus Rumänien geflohen und mit einer Handvoll Szgany-Knechte, einem Beutel voller Gold und seinem sich entwickelnden Parasiten – dem eigentlichen Keim seiner Größe – unterwegs hierher.
Eine Zeit lang hatte er Angst vor der Rache seines Vaters gehabt. Was würde der große Drakul wohl tun, wenn er nach Rumänien zurückkehrte und feststellte, dass sein Ei-Sohn die Burg verlassen und das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht hatte? Drakesh war regelrecht erleichtert, um nicht zu sagen: erfreut gewesen, als er später von Egons Ableben erfuhr, davon, dass sein Vater den wahren Tod erlitten hatte, und zwar von der Hand eines rachsüchtigen Arztes, der sich mit dem Studium des Vampirismus und derlei Mythen befasste ...
Abermals traf ihn ein Windstoß; instinktiv hob er die Arme und lehnte sich hinein, versucht, sich einfach fallen und davontragen zu lassen. Doch er widerstand der Versuchung. Alles zu seiner Zeit!
Der tosende Wind trug den klagenden, in der beißenden Kälte der nächtlichen Hochebene dünnen Schrei eines Yaks, gut fünf Kilometer vor den Mauern der alten Stadt, zu ihm. Darauf hatte Drakesh gewartet. Denn als umsichtiger Gebieter war er stets darauf bedacht, dass für die Bedürfnisse all seiner Kreaturen und Vertrauten gesorgt war.
Auf jetzt, meine fliegenden Kreaturen! , sandte er. Los!
Und aus den Ritzen und Spalten der aus dem Fels gehauenen Kuppel der Feste – aus ihrer Kolonie hoch oben in den düstersten Winkeln des Höhlenlabyrinths – kamen sie, seine Kreaturen, die wahrhaft zu fliegen vermochten ...
Was Drakesh anging, hatte Major Chang Lun seine Anweisungen, Order sozusagen. »Statten Sie der ummauerten Stadt hin und wieder einen Besuch ab!« Das war lächerlich! Einen dämlicheren Befehl konnte man ihm wohl kaum geben. Doch genau das hatten sie ihm gesagt, mehr nicht: Hin und wieder einen Besuch abstatten!
Aber wie oft war hin und wieder? Oft, sehr oft, oder was? Und was sollte er tun oder wonach Ausschau halten, wenn er dorthin kam? Etwa die dicken Bäuche von Drakeshs erzwungenen Huren streicheln? Ihnen dazu gratulieren, dass sie eine erfolgreiche Nummer mit dieser Kreatur geschoben hatten? Doch nein, nichts von alldem, einfach bloß Besuche abstatten. Hah!
Oh, Chang Lun wusste sehr wohl, worin das Problem bestand: mangelnde Organisation und Selbstdisziplin in einer überwiegend zivilen, sich selbst verwaltenden, geheimen Abteilung des Militärs, die eigentlich eher ein Experiment war. Es lag daran, dass dieser ... dieser sogenannte »Oberst« Tsi-Hong in Chungking, dieser langweilige, metaphysische Träumer, selber keine Ahnung hatte, was er mit Drakesh und dessen angeblicher Sekte anstellen oder dagegen unternehmen sollte. Andererseits konnte es auch durchaus bedeuten, dass Tsi-Hong ihm nicht traute oder die
Weitere Kostenlose Bücher