Vampirzorn
Grube abdeckende Gitter hochzukurbeln. Doch Tonis Miene war womöglich noch ernster, regelrecht angespannt. Er packte seinen Bruder am Arm. »Noch eine Chance! Geben wir unserem Vater noch eine Chance! Ich spreche für ihn, ja. Oh, ich weiß, dass du recht hast: So, wie er jetzt ist, kann er uns nicht mehr nützen. Aber machen wir unsere Entscheidung doch davon – von unserem Erfolg oder Misserfolg in dieser überaus wichtigen Angelegenheit – abhängig. Wenn Angelo für uns durchkommt und seinen Wert jetzt, wo wir ihn am dringendsten brauchen, unter Beweis stellt, machen wir weiter wie bisher. Wir bleiben hier, sorgen für ihn und benutzen ihn als unser Orakel, so lange er seine Aufgabe erfüllt.«
Francesco löste das Hängegerüst aus seiner Vertäuung und senkte es auf den gewachsenen Felsboden hinab. »Hilf mir mit Julietta«, sagte er, und einen Moment später: »Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein – dass du auf einmal klar sehen solltest, zur Flucht rätst und dazu, die Fesseln dieses Ortes abzustreifen. Nein, du doch nicht! Dazu bist du deiner Heimstatt viel zu sehr verbunden!«
»Nun?«, fragte Toni, während sie Julietta aus dem Sarg holten, ihren reglosen Körper auf die Plattform legten und das sie nur lose bedeckende Bahrtuch von der eiskalten, untoten Gestalt zogen. »Und was sollen wir tun?«
Sie schwenkten den Ausleger des Flaschenzugs über die Grube und warteten, bis er das Gleichgewicht wiedergewann und aufhörte, sich zu drehen. Damit waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Das Einzige, was jetzt noch zu tun blieb, war, dass Toni mit dem Wesen in der Grube reden oder vielmehr feilschen musste.
»Ich für meinen Teil«, sagte Francesco schließlich, »werde auf die ein oder andere Art von hier verschwinden. Da draußen wartet eine große, weite Welt auf mich, Bruder, und meinem Dafürhalten nach war ich schon viel zu lange in einer kleinen Ecke davon eingesperrt. Also werde ich meinen Anteil nehmen und weggehen. Du kannst mitkommen oder hier bleiben, ganz wie du willst. Denn, sehen wir den Tatsachen doch mal ins Gesicht, wir mögen zwar Brüder sein, aber wir sind auch Wamphyri! Und die Wamphyri sind Einzelgänger. Wir hatten eine gute Zeit als die Francezcis und haben es geschafft, uns nicht gegenseitig an die Kehle zu gehen. Aber alles Gute ist irgendwann einmal zu Ende!«
»Meinst du das wirklich?«
»Jedes Wort! Jetzt habe ich die Karten auf den Tisch gelegt. Und du?«
»Wenn unser Vater für uns durchkommt«, erwiderte Toni, allerdings sehr bedächtig, »– wenn wir durchstehen, was auch immer uns erwarten mag – dann bleibe ich hier in der Manse Madonie und kümmere mich um ihn. Ich habe mich an diesen Ort gewöhnt, und mir gefällt der Gedanke, dass die Stätte mir gehört beziehungsweise ... irgendwann mir gehören wird. Mir allein!«
»Das ist der Territorialismus der Wamphyri«, erklärte Francesco ihm. »Bei dir ist er stärker ausgeprägt als bei mir. Siehst du jetzt, was mit einem passiert, wenn man immer nur zu Hause sitzt, Bruder? Dann entwickelt man einen regelrechten Koller – wie ein Hund, der zu lange im Käfig gehalten wurde! Es braucht nur jemand die Schwelle zu überschreiten ... nun, ich glaube, du würdest sogar die Hand beißen, die dich füttert! Ich dagegen war immer derjenige, der raus ins Freie und etwas erleben musste. Und es wird wieder so sein!«
Toni antwortete lediglich mit einem Achselzucken. »Vielleicht hast du recht. Falls ja, dann sei es so ...«
Antonio Francezci war keineswegs ein großartiger Telepath. Schon vor Jahrhunderten hatte sein Vater ihm gesagt, dass das Talent bei den Ferenczys nur sporadisch auftrete. Mitunter übersprang es ganze Generationen, doch mit der Zeit trat es selbst noch bei den »untalentiertesten« Mitgliedern der Familie in Erscheinung. Das konnte eigentlich nur heißen, dass Toni und sein Zwillingsbruder gänzlich untalentiert waren! Dies lag wohl daran, dass sie eher Teil der modernen Welt und ihrem Ursprung – insbesondere in ihrem Denken – weitgehend entfremdet waren. In dieser Welt hatten sie nicht die Fähigkeit gebraucht, gegen den Einfluss fremder, feindlicher Vampire anzukämpfen; also hatten sie diese auch nicht entwickelt. Und nun, wo sie sie vonnöten hatten, war es zu spät. Da dieser metaphysische »Muskel« niemals in Gebrauch gewesen war, war er einfach verkümmert. Zwischen den Brüdern jedoch bestand eine rudimentäre telepathische Verbindung. Und zwischen ihnen und ihrem Vater,
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