Vampirzorn
du in die Luft gehen, als ich dich fragte, was sich denn eigentlich verändert habe. Zugegeben, ich habe dich ein bisschen hochgenommen. Du hast darauf hingewiesen, dass die Familien anfangen, hinter unserem Rücken über uns zu lachen, und dass diverse Nachrichtendienste sich von uns zurückziehen. Aber um wie viel schneller würden sie uns ohne Angelo fallen lassen?«
»Deine Argumentation ist mal wieder tadellos«, erwiderte Francesco, »bis auf eine winzige Kleinigkeit. Und diese Kleinigkeit besteht darin, dass wir ja bereits ›ohne‹ Angelo sind! Wann gab unser Vater denn zum letzten Mal auch nur ein einziges brauchbares Wort von sich? Oder eins, das irgendeinen Sinn ergab? Wir haben ihn verloren, Toni, er hat sie nicht mehr alle und ist für uns nicht länger von Nutzen. Nun ja, diesmal vielleicht noch als eine Art Müllschlucker.«
»Und womöglich als unser Geistesspion, um herauszufinden, was auch immer da draußen vorgeht.«
»Ja, eine letzte Chance, Radu Lykans Bau ausfindig zu machen und die Stunde seiner Wiederauferstehung in Erfahrung zu bringen. Eine letzte Gelegenheit, die verdammte Stätte der Drakuls oben in Tibet auszuspähen und vielleicht etwas über ihre Pläne zu erfahren. Und falls wir Glück haben – und Angelo danach ist, mit uns zusammenzuarbeiten, vorausgesetzt, er ist überhaupt in der Lage dazu – noch einen letzten Blick in unsere eigene Zukunft zu erhaschen.«
»Die ersten beide Dinge vielleicht«, meinte Toni nachdenklich. »Nicht jedoch Letzteres. Wie können wir hoffen, das von ihm zu erfahren, wenn er selbst nicht mehr Teil dieser Zukunft ist? Er wird uns wohl kaum Ratschläge dazu erteilen, wie wir sein Ableben bewerkstelligen können ...«
Francesco klappte der Kiefer nach unten, und seine Augen funkelten in einem monströsen Grinsen. »Jetzt begreife ich endlich, was für ein Narr ich doch war, an dir zu zweifeln!«
»Oh?« Toni blickte ihn nur kühl an.
»Du spielst mit dem Gedanken, ihm ein Ende zu bereiten!«
»Rein aus Mitleid, aus keinem anderen Grund.«
»Was? Noch vor einem Moment fürchtetest du dich vor ihm!«
»Ist das denn so unvereinbar? Furcht und Mitleid? Immerhin ist er unser Vater.«
»Er ist ein Ungeheuer!«
»Und wir denn nicht?«
»Du spielst Wortspiele!« Francesco ruderte hilflos mit den Armen.
»Wir bewegen uns im Kreis.« Tonis Ton war nun schärfer. Er hatte genug von alldem. »Wir reden zu viel und haben ohnehin bereits viel zu viel gesagt. Und das auch noch am falschen Ort!«
»Was? Glaubst du etwa, er belauscht uns? Und wenn schon, was soll er denn verstehen? Und falls doch, was würde es ihm schon ausmachen? Ihm ist doch alles egal; nun ja, außer dass er unentwegt tobt und mit seinen Opfern plappert, deren Bewusstseine seine Hölle mit ihm teilen.«
Tonis Antwort bestand darin, einen Finger an die Lippen zu legen und einen vorsichtigen Blick hinab in die Grube zu werfen. »Hm, im Moment plappert er nicht ...«, flüsterte er.
Das stimmte; im psychischen Äther schien eine atemlose Stille zu herrschen. Doch die Nebelschleier aus der Grube – der Atem oder vielmehr die Ausdünstungen des Wesens, das sie beherbergte – stiegen nach wie vor auf, ein übel riechender Dunst, der sich sofort niederschlug, sobald er das unter Strom stehende Drahtgeflecht des mit Scharnieren versehenen Rahmens berührte, der den Schlund des uralten Brunnenschachtes abdeckte.
Sekundenlang blickten die beiden Brüder einander an, bis Francesco schließlich meinte: »Wie gesagt, ich beneide dich nicht. Aber ...«
»... einer muss es ja tun, ich weiß«, führte Toni den Satz für ihn zu Ende. »Und, ja, ich habe mit dem Gedanken gespielt, ihn umzubringen. Schließlich ist er das Einzige, was uns hier hält; außerdem hat die Manse Madonie, glaube ich, ihre besten Tage bereits hinter sich. Wir könnten anderswo ganz neu anfangen, unter anderem Namen, und etwas völlig anderes tun als jetzt. Dein Vorschlag war ein Zweihundert-Liter-Fass Kerosin und eine Stange Dynamit. Aber was, wenn ich sage: Nehmen wir genug Sprengstoff, um die ganze Anlage in die Luft zu jagen?«
»Ich wäre sofort dabei!«, erwiderte Francesco. »Und nach außen hin muss es so aussehen, als hätte es uns ebenfalls erwischt.«
»Aber auch wenn wir hier alles in Schutt und Asche legten, würde das unser Problem nicht lösen – nämlich die Tatsache, dass die Gefolgsleute des Hunde-Lords und aller Wahrscheinlichkeit nach auch dieser Drakul in Tibet über uns Bescheid wissen und wir
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