Vampirzorn
sein anscheinend gestörtes geistiges Gleichgewicht –, hielten wir für Symptome seines rasch voranschreitenden Wahnsinns. Aber, und das habe ich schon öfter gesagt, wer würde unter solchen Umständen denn nicht wahnsinnig werden? Stell dir vor, du befändest dich in der Lage unseres Vaters! In lichten Momenten, wenn er die Kontrolle über seine Talente hat, vermag er auszuspähen, was in der Welt vor sich geht. Er kann oder vielmehr könnte sogar einen Blick in die Zukunft erhaschen. Unter Millionen Menschen kann er einen Einzelnen ausfindig machen, auch über zehntausend Kilometer hinweg, und uns auf dem Laufenden darüber halten, was dieser Mann gerade tut. Er war unser Orakel, und seit über dreihundert Jahren ziehen wir unseren Nutzen aus ihm. Und er war erstaunlich erfolgreich! Als er die Kontrolle über seinen Metamorphismus verlor und sein Körper an diesen Ort gefesselt war, war es beinahe, als habe sein Geist dadurch an Freiheit gewonnen ...«
Francesco nickte ungeduldig. »Jetzt erzähl’ mir doch bitte etwas, was ich nicht bereits weiß. Zum Beispiel über unseren Eindringling – wer er wirklich ist und in welcher Verbindung er zu B. J. Mirlu und Radu Lykan steht. Erzähl’ mir etwas über den Hunde-Lord – wo er sich aufhält, die Namen seiner Knechte und das Ausmaß seiner Macht. Und dann sag’ mir etwas über diesen letzten Drakul in seinem Kloster in Tibet – was er im Schilde führt und weshalb er sich dazu entschlossen hat, ausgerechnet jetzt seine Karten aufzudecken. Wenn du mir über diese Dinge etwas sagen kannst, dann könnte ich vielleicht ebenfalls anfangen, ein wenig Vertrauen in die Fähigkeiten unseres Vaters zu setzen.«
Toni kniff die Augen zusammen. »Einiges davon kann ich dir sagen«, erwiderte er. »Einiges schon. Denn genau daran arbeitet Angelo, seit unser Eindringling – wer oder was auch immer er sein mag – in unsere Schatzkammer einbrach und uns beraubte.«
»Was? Habe ich richtig gehört? Sagtest du: ›Wer auch immer er sein mag‹?« Francesco war wütend, seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Soll das heißen, wir wissen eigentlich noch gar nicht, wer es ist? Hat Angelo es sich etwa anders überlegt? Und sagtest du ›arbeiten‹? Unser lieber Vater arbeitet also daran?« Als er Tonis Gesichtsausdruck bemerkte – die sich rötenden Augen und wütend geblähten Nasenlöcher –, verstummte er und schlug seufzend einen anderen Ton an. »Ich bin mal wieder zu ungeduldig, so wie immer«, entschuldigte er sich unbeholfen. »Na gut, erzähle es mir auf deine Art.«
Zwischen tiefen Zügen an seiner Zigarette begann Toni zu erzählen:
»Er hat B. J. Mirlus Geist aufgespürt und begrenzten Zugang erlangt. Sie ist eindeutig eine Wamphyri, darum wagte er sich nicht allzu weit vor. Er muss mit äußerster Vorsicht vorgehen, sonst würde sie es sofort merken. Eines scheint jedoch sicher: Sie hat einen Knecht oder Gehilfen – jedenfalls jemanden, der sie unterstützt – in einem Ort namens Inverdruie in den Cairngorms. Das passt zu dem, was wir bereits wissen: Genau dort legten sie und ihr Freund vom E-Dezernat, unser Eindringling, einen Leutnant der Drakuls nebst einem Knecht um. Wofür die Drakuls sich interessierten? Das liegt auf der Hand – für den Bau des Hunde-Lords. Sie kamen zu dicht an sein Versteck heran. Inverdruie ist ein kleines Kaff, nicht mehr als eine Kreuzung an der Landstraße und eine Handvoll Häuser. Sollte es notwendig sein, können unsere Leute den Ort Haus für Haus auseinandernehmen. Wenn B. J. Mirlus Gefolgsmann sich dort aufhält, werden wir ihn finden.
Es gibt noch weitere Knechte, ein paar zumindest, möglicherweise in Schottland. Genau wie B. J. stammen sie von den uralten Szgany-Clans ab, die in den alten Zeiten von der Sternseite kamen. Keiner von ihnen ist verwandelt, aber das Blut fließt unverfälscht in ihnen. Angelo nennt sie ›Mondkinder‹. Sie sind Schläfer. Die Frau kann jederzeit ihre Hilfe in Anspruch nehmen, wenn sie sie braucht. Außerdem wissen wir von unserem Schläfer und Leutnant, Angus McGowan, dass die Mädchen, die in B. J.’s Lokal in Edinburgh arbeiten, allesamt unter ihrem Bann stehen – auch diejenige, die wir damals Angelo gaben. Allerdings ist Angelo sich nicht ganz sicher, was er von ihnen halten soll. Vermutlich bloß einfache Knechte.
Was nun diesen Kerl vom E-Dezernat angeht: Er ist eindeutig unser Eindringling. Er nennt sich Harry Keogh – aber wir wissen, dass der tot ist! Kommt wohl ziemlich
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