Van Helsing
bedrohlich wirkendes Schloss in den Himmel. Aus dem Gebäude, das kurz darauf von weiteren Blitzen erhellt wurde, schossen grelle Lichtbögen. Etwas Seltsames ging dort vor. Und was auch immer es sein mochte, Van Helsing wusste genau, wer dahinter steckte.
Wortlos saßen er und Anna auf und ritten auf das Schloss zu. Minuten später erreichten sie die verfallene alte Scheune neben dem Hauptgebäude. Beim Absteigen sagte Anna: »Ich verstehe das nicht. Der Mann, der hier lebte, wurde vor einem Jahr getötet – zusammen mit der schrecklichen Kreatur, die er geschaffen hatte.«
»Damals ist auch Ihr Vater verschwunden«, bemerkte Van Helsing.
»Kurz danach.«
Van Helsing überlegte, ob er deutlicher werden sollte, aber was konnte er Anna schon sagen? Dass sein Instinkt ihm verriet, dass Dracula an diesem Ort war? Er beschloss zu schweigen, und sie banden ihre Pferde an einem Pfosten fest.
Sie stapften an der Scheune entlang durch den Schnee und spähten durch das ramponierte Tor zum Schloss. In einem Fenster hoch oben im Hauptturm blitzte es. Weitere Erklärungen waren überflüssig, fand Van Helsing, der Anblick sollte der Prinzessin eigentlich genügen.
»Vampire, Werwölfe, Blitze im Winter ... ein wahrhaft albtraumhafter Ort«, bemerkte er.
Anna starrte das unheimliche Schloss gedankenverloren an. »Ich war noch nie am Meer«, sagte sie schließlich. Van Helsing sah sie an. Auf ihrem Gesicht lag ein wehmütiger Ausdruck.
Vielleicht wird das auch so bleiben, dachte er, und stellte fest, dass ihn dieser Gedanke betrübte. Obwohl er in den letzten sieben Jahren so viele Tote gesehen hatte, so viele verschwendete Leben, rührte ihn der schlichte Wunsch einer jungen Frau, etwas zu sehen, was sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er nahm sich vor, ihr bei Gelegenheit ein wenig über das Meer zu erzählen.
»Es ist bestimmt wunderschön dort«, sinnierte Anna traurig und wollte schon auf das Schloss zugehen, als Van Helsing sie zurückhielt.
»Die einen nehmen den Haupteingang«, sagte er und zeigte auf einen Leichenhaufen im Gebüsch, der kurz im Lichtschein eines Blitzes zu sehen war. »Und die anderen leben noch ein bisschen länger.«
Anna hatte einen guten Instinkt. Was ihr für diese Arbeit fehlte, war Erfahrung. Wenn sie das alles überlebte, würde sie vielleicht so gut werden wie er. Van Helsing hoffte allerdings, dass sie sich aus diesem furchtbaren Geschäft zurückzog, bevor sie ... so wurde wie er. Bevor sie für den siegreichen Kampf zu viel von sich selbst opferte.
Wenn Draculas Fluch von diesem Land genommen war, gab es keine Monster mehr, die sie bekämpfen musste. Vielleicht konnte er sie bis dahin beschützen – einmal etwas bewahren, statt immer nur zu zerstören. Vielleicht würde er so einiges von sich zurückgewinnen, das ihm unterwegs abhanden gekommen war.
Van Helsing führte Anna auf die Rückseite des Schlosses, wo sie auf eine kleine Tür stießen: eine Art Notausstieg. Sie wäre ihnen gar nicht aufgefallen, hätte sie nicht wegen eines ausgerissenen Scharniers schief im Rahmen gehangen. Nachdem sie hindurchgeschlüpft waren, platschte Schmutzwasser um ihre Stiefel, und sie fanden sich mitten in einer großen Empfangshalle wieder, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Es roch nach Tod und Verwesung. Dracula war da; das spürte Van Helsing deutlich. Am anderen Ende des Raumes huschte eine kleine Gestalt vorbei. Van Helsing legte seine Schrotflinte an. Anna nickte und sagte: »Ein Dwerger.«
»Ein Dwerger?«, wiederholte Van Helsing.
»Einer von Draculas Dienern. Wenn Sie die Gelegenheit bekommen, einen zu töten, dann tun Sie es – bevor die Dwergi Gelegenheit haben, Ihnen Schlimmeres anzutun.«
»Alles klar.«
Ein weiterer Dwerger kam herein. Er war in Lumpen gekleidet und trug eine Art Maske mit Schutzbrille. Van Helsing ließ die Flinte sinken.
Der Dwerger blickte hoch und schrie etwas. Entsetzt drehte Anna sich zu Van Helsing um. »Sie benutzen meinen Bruder für irgendein Experiment!«
»Anna ...« Mehr brachte er nicht heraus.
Anna war verzweifelt. »Mein Bruder kämpft immer noch gegen das Böse in ihm an. Es gibt noch Hoffnung!«
Van Helsing fasste sie am Arm und redete leise auf sie ein: »Anna! Es gibt keine Hoffnung für Ihren Bruder, aber wenn wir Dracula töten, schützen wir viele andere.« Es auszusprechen schmerzte ihn – und er wusste, es zu hören schmerzte sie –, aber es war nun einmal die Wahrheit. Sie konnten dennoch etwas erreichen, etwas Wichtiges
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