Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
erahnen, deshalb standen sie vom Körper so weit ab, als hätte er Rasierklingen unter den Achseln.
Um dem Vollbild des Zwerges aus Grimms Märchen zu entsprechen - Niebold war Bergmann, kam aus Schlema im Erzgebirge und arbeitete unter Tage. Ein wichtiges Detail fehlte dennoch - die Zipfelmütze. (Die aber hielt er gewiß im Schrankfach für persönliche Gegenstände versteckt.)
„Wir wis sen, daß wir mut ig sind, denn w ir I dioten s uchen M etalle u nter T age!“ ließ er des öfteren hören - zwei Interpretationen für die Sowjetisch - Deutsche Aktiengesellschaft „Wismut“, die, wie natürlich jedermann wußte, kein Wismut, sondern Uran für den Atombombenbau förderte.
„Noch so ein Staat im Staate,“ wußte Wilfried. Auch in der Nähe seiner Stadt war die SDAG „Wismut“ am Werke und hinterließ nebst pyramidalen Abraumhalden verödete Landschaften.
Um den Bergleuten ihre schwere und gefährliche Arbeit etwas zu versüßen, gab es für DDR - Verhältnisse jede Menge Vergünstigungen, neben hohen Löhnen, betriebseigenem Feriendienst und Gesundheitswesen sogar den berüchtigten, branntweinsteuerfreien Wismutfusel, aber nur für die Bergleute, die unter Tage schufteten. So war es nicht verwunderlich, daß viele von ihnen recht rasch dem Alkoholismus anheimfielen.
Am schlimmsten aber fand Wilfried die unter der Hand kursierende Aussage, die DDR wäre ein schwerreicher Staat, könnte sie das Uran am Weltmarkt zu den dortigen Preisen verkaufen. Dann wären Staublungen -, Silikose - und Bronchialkarzinomrisiko der Bergleute wenigstens nicht völlig für nichts gewesen.
Niebold aber focht das alles nicht an. Seine Ration Schnaps überließ er meist den anderen Kumpeln, gegen den Quarzstaub gebe es ausreichende Schutzmaßnahmen, die man nur einhalten müsse, Radioaktivität - naja, man könne es auch übertreiben.
Radon hätten eh nur die Leute mit Eigenheim nahe der Abraumhalden im Keller, unter Tage hingegen sei die Bewetterung ausgezeichnet.
Wilfried, der Niebold durchaus Sympathie entgegenbrachte, hoffte für ihn, daß es so wäre.
Als er später erfuhr, daß ihn seine Freundin verlassen hatte, litt er gehörig mit ihm an Liebeskummer. Seine Befürchtung, nur sehr schwer eine neue Liebe passender Größe zu finden, war wohl nicht ganz unberechtigt.
Die Fahrzeuge waren verteilt. Wilfried und zwei weitere Genossen aber hatten keines zugeteilt bekommen. War das nun Zufall oder ein schlechtes Omen?
Als Fähnrich Fritzsch anderntags den Morgenappell abhielt, fragte er in die Menge, ob jemand Lust hätte - er sagte tatsächlich das Wort „Lust“ - als ob es jemals nach dem Lustprinzip bei der NVA ginge - bei ihm anderthalb Jahre als Schreiber tätig zu sein.
Derjenige möge sich im Anschluß doch bei ihm melden.
Wilfried zögerte keine Sekunde. Unter der Tätigkeit in einer Schreibstube konnte er sich noch am ehesten etwas vorstellen.
Ein Fahrzeug zu fahren hieß ja auch, für die Wartung zuständig zu sein, was ihn wohl zumindest anfangs ziemlich überfordert hätte. Jedes Fahrzeug mußte „EB“ - einsatzbereit abgestellt werden, ansonsten gab es weder Schlaf noch Nahrung, bis dieser Zustand erreicht sei.
„Erst das Roß und dann der Mann!“ hieß es anscheinend nicht nur im Wilden Westen.
„Ihre Deutschzensur?“ fragte Fritzsch ihn und einen weiteren Genossen, der sich doch tatsächlich erdreistete, ihm, Wilfried, den Posten streitig zu machen.
„Eins!“ schmetterte Wilfried, wohl ein wenig zu selbstbewußt.
„Zwei!“ ließ sich sein Konkurrent vernehmen.
Fritzsch war anscheinend sehr erfreut, die Wahl zu haben, denn die meisten Soldaten hatten ja schon mit der Wahl ihres Berufes im Zivilleben bewiesen, daß ihnen die praktische Tätigkeit mehr lag.
Fritzsch ließ sie wissen, daß er seine Entscheidung am nächsten Tage zu treffen gedenke.
„Genosse Montag, Sie haben sich beim Hauptfeldwebel als Schreiber beworben,“ sprach Turner Wilfried an. Melden Sie sich doch bei Oberfähnrich Mahlmann in der Technischen Kompanie!“
Erst nach und nach wurde Wilfried klar, daß sein Konkurrent bei Fritzsch ihn ausgestochen hatte, möglicherweise deshalb, weil Fritzsch es nur hätte schwer ertragen können, einen klügeren Untergebenen in seiner unmittelbaren Nähe zu haben, klüger als er selbst.
Es hieß ja unter den Soldaten, die Fähnrichprüfung bestünde darin, drei Stunden am Fenster zu sitzen, ohne an irgend etwas zu denken. Daß dergleichen nur nach jahrelanger Übung im
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