Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
ausarten.
Allmählich begann er zu ahnen, auf welche Weise anscheinend auch in weiten Teilen der zivilen Volkswirtschaft der DDR gearbeitet wurde.
Als er meinte, genug gespielt zu haben, wollte er seinen Kipper wieder abgeben, mußte ihn aber vor der Werkstattinspektion auf der Rampe abspritzen und schrubben. Dies bereitete ihm weniger Vergnügen, konnte man sich doch im kalten Aprilwind in nasser Uniform tüchtig erkälten.
Als er glaubte, die sichtbaren Stellen seien sauber genug, ließ er den Kipper rückwärts von der Waschrampe hinabrollen, übersah aber dabei leider eine seitlich parkende Kras - Zugmaschine.
Das hinter dem Fahrerhaus angebrachte Reserverad wurde in seiner Halterung beim Zusammenstoß heckwärts gebogen.
Das war nun echt ärgerlich. Würde die „Regreßhexe“ zu guter Letzt auch ihn noch erwischen?
Mitnichten.
Der Fahrer des Kras fluchte zwar gehörig und Wilfried sah sich genötigt, Zerknirschung zu zeigen, dann aber bauten sie gemeinsam die Halterung ab, spannten sie in der Werkstatt in eine Hochdruckpresse ein, die als überdimensionaler Schraubstock dienen sollte und versuchten, sie mit dem Wagenheber in die Ursprungsform zu biegen. Als dies mißlang, bat der Kras - Fahrer einen Gabelstaplerfahrer, mit der Stapelgabel den nötigen Umformungsdruck von unten nach oben zu erzeugen, was auch tatsächlich zum Erfolg führte.
Sollte doch niemand behaupten, die Genossen seien unkreativ oder gar unhilfsbereit.
Wilfried aber hatte genug vom Spielen im Sandkasten.
Wahrlich, er mußte bis zum letzten Tage arg achtgeben, daß er nicht verlotterte, daß die antrainierte Schludrigkeit in der Kaserne zurückbliebe.
Zwar mied er auch nach knapp 18 Monaten konsequent jeden Tropfen Alkohol, nicht, weil er den Befehl 30/74 einzuhalten gedachte, der Alkoholgenuß in der Kaserne untersagte, sondern aus gesundheitlichen Gründen, um sein Zentralnervensystem nicht zu schädigen, was sogar soweit ging, daß er, vom Kompaniechef genötigt, mit ihm mit Wodka anzustoßen, nur zum Schein nippte, um das volle Schnapsglas danach in der Innentasche seiner Uniformjacke zu verstauen und es Andreas Shetland auf die Stube zu bringen, einem von den Vorgesetzten gemobbten Leidensgefährten, der sich deshalb unbeliebt gemacht hatte, da er mit seiner Meinung oft direkt und polternd daherkam. Alle zwei Tage mußte er dafür den 24 - stündigen GUvD, den Gehilfen des Unteroffiziers vom Dienst geben, der im zugigen Dienstzimmer am Ende des Flurs nur von 22.00 Uhr bis 2.00 Uhr schlafen durfte, was kaum möglich war. Die bessere Zeit, in der man dort wirklich, endlich zum Umfallen müde, zum Schlafen kam, hatte natürlich der UvD ab 2.00 Uhr bis 6.00 Uhr zum Wecken der Kompanie.
Hinzu kam, daß Shetland monatelang weder Ausgang noch Urlaub erhielt, seine ihm pflichtweise zu gewährenden Urlaubstage wurden erst kurz vor der Entlassung befohlen, wobei der Spieß streng darauf achtete, daß kein nicht anzurechnender Sonntag dabei wäre.
Andreas dankte Wilfried freundlich und prostete ihm zu. Eine gute Tat für eine geschundene Seele - da kam sich doch auch Wilfried gleich viel tugendhafter vor!
Das Meiden des Alkohols beim Ausgang hatte außerdem zur Folge, daß Wilfrieds Getränkerechnung stets um etliches höher lag, als die der anderen. Orangensaft hatte in der DDR eben seinen Preis, aber den entrichtete Wilfried gern.
Die Zahl der von ihm bisher gerauchten Zigaretten lag ohnehin bei Null, und diese würde sich auch lebenslang ganz sicher nicht erhöhen, was neben beträchtlichen gesundheitlichen auch finanzielle Vorteile bot, so daß genügend Geld für Orangensaft übrig war.
Blieb also nur die Gefahr der Verlotterung durch Faulheit und Desinteresse. Was konnte man tun? Literatur half in fast allen Lebenslagen.
Die Regimentsbibliothek besaß durchaus neben den Materialien zu den Parteitagen und ZK - Tagungen, den Schriften der Klassiker des Marxismus - Leninismus, die man nur las, wenn man mußte, neben in der DDR erlaubter Trivialliteratur, die Wilfried aber doch allzu trivial angeschlichen kam, Exemplare anderer Klassiker, nämlich der Deutschen Literatur.
Die fünfbändige Schiller - Gesamtausgabe hatte es ihm angetan. Wann, wenn nicht jetzt im Leben käme er dazu, alle seine Dramen zu lesen?
Wilfried nahm den in gelbgrünes Leinen gebundenen ersten Band, versuchte ihn aufzublättern und war überrascht, daß die Seitenränder noch leicht zusammenklebten, bedingt durch die rotbraune Farbe, die man
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