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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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würde. Aber wir waren jung, noch auf der Suche nach dem Wahren, Guten, Schönen. Wir zahlten. Als ich aufstand, wäre ich fast umgefallen. Man merkt es diesem harzigen Gesöff nicht an, aber es macht schnell körperlich betrunken. Während der Geist sich noch hellwach im Sonnenschein von Kreta aalt, knicken die Beine ein, und der Magen rutscht stetig und auf fast angenehme Weise nach oben. Man beobachtet das se lig lächelnd, aber plötzlich muss man ganz schnell einen abgelegenen Ort finden.
    Mein Stuhl krachte auf den Boden, meine Tasche fiel mir aus der Hand. Die Hand vorm Mund, taumelte ich am grinsenden Wirt vorbei in Richtung der Toiletten. Dann die Stirn am kühlen Porzellan. Ich atmete ein Dutzend Mal tief durch, aber es kam doch – ohne Anstrengung in drei langen, flüssigen Schüben. Ich war ja schon damals kein Anfänger mehr, aber diese Wirkung hatte ich dem Retsina nicht zugetraut. Nach den Eruptionen ging es mir schlagartig besser, wenn ich auch noch etwas wackelig unterwegs war und sicherlich ziemlich blass aussah. Aber ich wusste wieder, was die nächsten Schritte zu sein hatten. Zurück in die Gaststube, Tasche holen, zahlen und nach Hause, schlafen.
    Plötzlich stand sie vor mir, meine Tasche in der Hand, die eigene über der Schulter. Ich bringe dich nach Hause, sagte sie. Du kannst in dem Z ustand nicht fahren. Und sie fasste mich am Arm, stützte mich auf dem Weg zu ihrem Auto, ließ mich zuerst einsteigen und fuhr los. Als sie ihr Fenster herabließ, dachte ich, es wäre wegen meines Gestanks. Aber nein! Damit du ein wenig Luft bekommst, sagte sie. Wenn dir kalt wird, sag es. Mehr redete sie nicht während der ganzen Fahrt. Als wir vor meinem Haus hielten, fragte sie nur: Schaffst dus? Ich nickte, nahm meine Tasche und stieg aus. Bevor ich mich bedanken konnte, lehnte sie sich über den Beifahrersitz, zog die Tür zu und fuhr grußlos ab. Aber ich hatte das Gefühl, dass ein belustigtes Glitzern in ihren Augen war, als sie mich noch einmal anschaute.
    Es war gerade Mittag, als ich mich hinlegte. Eigentlich nicht meine Schlafenszeit. Doch als ich erwachte, war es dunkel. Das Telefon klingelte. Damals klingelten die Dinger noch. Ich kam nicht rechtzeitig hin, obwohl es direkt neben dem Bett auf dem Boden stand, so verkatert war ich. Was vielleicht auch nicht so bekannt ist: Retsina verursacht einen gemeinen Kater. Ähnlich wie diese Lakritzgetränke, Pastis oder Ouzo. Auch höchst gefährlich. Ich war langsam wie eine gehbehinderte Schildkröte. Das Denken war ein mühseliges Hangeln von Wortsinn zu Wortsinn, wobei manche Begriffe mir Schwierigkeiten machten, da ich mich an ihre Bedeutung nicht erinnerte.
    Später, nach einer Schockdusche, beim ungefähr zwanzigsten Kaffee und dem zweiten Rührei mit Speck, klingelte das Telefon erneut. Ihre belegte Stimme: Na, gehts wieder? Willst du mich immer noch zu einem Wein einladen? Ich musste mich erst fassen. Ich war gerade neu geboren worden, musste mich an diese seltsame Welt noch gewöhnen. Dann sagte ich: Ja doch, gerne. Aber nicht heute. Ruf mich an. Sie lachte, und das klang sehr hübsch. Sie sagte, das Lachen noch in der Stimme: Vielleicht übermorgen. Ruh dich aus. Und sie legte auf. Das ist nicht dein Ernst, oder? Du willst einen Retsina probieren? Ich habe es dir doch gerade erzählt: Das Zeug schmeckt nicht und macht unangenehm besoffen. Was? Sonnenlicht auf Kreta? Aber das gibt es doch nur in einer kurzen Phase. Ok, wie du meinst. Ich nehme noch ein Bier. Da weiß ich wenigstens, wenn es reicht.
    Am nächsten Tag blieb ich zu Hause und erholte mich. Ich las im Bett, duschte, ging wieder ins Bett und las. Du kennst ja diesen verantwortungslosen Umgang mit der Zeit, den man sich manchmal während des Studiums leistet. Das trügerische Gefühl, frei über Tag und Nacht verfügen zu können. Aber am Tag darauf ging ich wieder in die Uni, motiviert und ausgeruht. Ich nahm an allen Veranstaltungen teil, kassierte einen Schein für ein kurzes Referat über Kindheit im Werk von Turgenjew und hastete am späten Nachmittag nach Hause, weil ich ihren Anruf erwartete. Auf dem Campus hatte ich sie nicht gesehen, also blieb für jenen Tag nur diese Art der Kontaktaufnahme. Ich machte mir einen Tee, sah mir durch das Fenster den herbstlichen, diffus dahinschwebenden Nebel an und fragte mich, was aus dieser merkwürdigen Bekanntschaft wohl werden mochte. Dann machte ich mir noch einen Tee und fragte mich, wie ich ihr begegnen sollte nach dem ein wenig

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