Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
Vom Netzwerk:
äußeren Erscheinung. Und da war nicht viel zu holen. Ein unordentlicher Kurzhaarschnitt, vorgebeugte Schultern, winzige Brüste, eine Nase wie ein Gerät aus der Landwirtschaft und ein Gesicht, das vom vielen Lesen, Auswendiglernen von Köchelverzeichnissen und dem Betrachten wuchtiger Kulturzeugnisse ganz klein geworden war.
    Der Griff in meine Armmuskeln war allerdings von beträchtlicher Kraft. Ich nahm ihre Hand weg und sagte leise: Du tust mir weh. Sie sah mich beiläufig an, als hätte ich ihr ein vergammeltes Käsebrötchen angeboten, wandte sich dann wieder dem Film zu und behielt meine Hand bis zum Parallelgemetzel am Ende. Bei dieser Szene ächzte sie leise und starrte angestrengt in die Dunkelheit vor ihren Füßen. Du hättest den Film nicht allein sehen sollen, sagte ich beim Abspann. Wieso, habe ich doch auch nicht, sagte sie und grinste. Du warst doch dabei.
    Wir gingen zusammen in eine Kneipe. Dort erfuhr ich, dass der Film eine Geschichte von Joseph Conrad adaptiert. War mir tatsächlich neu. Sie erläuterte, was für ein gewaltiges Kunstwerk Coppola daraus gemacht hatte. Sie sezierte die Charaktere, bewertete Szenen und Dialoge und bemängelte, dass wichtige Sequenzen der ursprünglichen Version einem rigorosen Schnitt zum Opfer gefallen waren. Es war interessant, sie so kenntnisreich sprechen zu hören. Aber, ehrlich gesagt, ziehe ich es vor, wenn ich den Eindrücken Gelegenheit geben kann, sich ein wenig zu setzen. Eine solche Bilderflut muss erst einmal den Weg durch die verschiedenen Kanäle meines geistigen Verdauungssystems gefunden haben, bevor ich mich intellektuell damit beschäftigen kann. Sie kam mir vor wie ein rabiater Chirurg, der die vom Krebs befallenen Brüste einer schön gewachsenen Frau amputiert, ohne zuvor einen Moment getrauert zu haben.
    Ich war jedenfalls nicht ganz bei der Sache und wurde erst wieder munter, als ich eine Hand in der Deckung des Tischtuchs mein Bein heraufstreichen fühlte. Bis ganz herauf. Ich wollte schon protestieren, obwohl sich da unten bereits etwas höchst angenehm regte. Aber als ich sie ansah, war sie ganz versunken in den Anblick ihres Weinglases, als hätte sie darin den Butt entdeckt. Eine leichte Röte war auf ihren Wangen, und zwischen ihren Lippen glitzerte es feucht. Mit ihren niedergeschlagenen Augen sah sie in dem gebrochenen gelben Licht beinahe wie einer dieser keuschen katholischen Barockengel aus, und da ihre Hand ihr Geschäft verstand, konzentrierte auch ich mich auf den Anblick meines Bierkruges.
    Du weißt ja, im Schwan gab es damals für das Selbstgebraute diese gekühlten Steingutkrüge. Auch lange her. Na ja. Als es mir dann kam und ich durch die Zähne leise zischte, kicherte sie zufrieden, zog ihre Hand zurück und trank ihren Wein aus. Ich muss gehen, sagte sie und stand auch schon auf. Du brauchst mich nicht zu begleiten. Vielleicht lässt du es erstmal trocknen. Sehr ironisch. Und ging.
    Eine etwas perverse Art der Erotik, oder? Erst staubt sie mich ein mit lang abgelagertem Intellektuellendung, und als ich mir schon vorkomme wie ein unbrauchbarer Gegenstand in der dunklen Ecke eines heruntergekommen Pfandleihhauses, poliert si e mir plötzlich das Holz, so dass ich für kurze Zeit strahle und glänze wie ein wertvoller Louis-Seize-Sekretär. Ich war am nächsten Abend wieder da. Sie kam nicht. Ich trank zwei Bier und kam dann hierher. Das war die Zeit, als sich hier immer die Jungs versammelten, du erinnerst dich. Mann, haben wir damals getrunken.
    Ach so, ja. Andrea, nochmal dasselbe. Am Abend darauf ging ich wieder hin. Ich weiß nicht, was mich damals ritt. Schließlich war es ziemlich peinlich gewesen. Sie hatte mich bloßgestellt, mich zu einem Sexualwesen reduziert. Und dennoch erregte mich der Gedanke daran, wie sie mich in einer gut gefüllten Kneipe völlig gelassen kommen ließ. Ich wollte es noch einmal. Es war so anders als in der eigenen oder angeeigneten Wohnung. Alte Geschichte. Die Gefahr des Entdecktwerdens, die vorgestellte Reaktion von hundert angeekelten, belustigten oder animierten Gästen führten zu Angst und zu einer seltsam masochistischen Lust.
    Da sie ausblieb und ich nicht wusste, wo ich sie finden sollte, ging ich am fünften Abend wieder in den Coppola. Und tatsächlich, da saß sie. Wieder allein für sich, wieder in sich zusammengesunken. Ich nahm den Sitz neben ihr, sagte hallo und wartete. Sie sah mich von der Seite an, zog kurz die Brauen zusammen und wandte sich wieder dem Film zu. Ich

Weitere Kostenlose Bücher