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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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beobachtete sie und stellte fest, dass sie auch bei den bestialischsten Szenen nicht mehr zuckte. Ganz sachlich schaute sie auf das diabolische Geschehen, als würde sie die Tagesumsätze eines Einzelhandelsgeschäfts addieren. Am Ende wippte ihr Fuß im Rhythmus der Musik. This is the end. Selbst beim Abspann, als ich schon überlegte, ob es eine gute Idee gewesen war, herzukommen, blieb sie überlegen, konzentriert und würdigte mich keines Blicks. Dann kam das Signet der Filmfirma, und nun konnte ich wirklich nicht mehr sitzenbleiben.
    Wir waren schon die letzten. Ich stand auf und sagte: Na dann. Sie sah aus ihrer sitzenden Position direkt auf meinen Hosenschlitz und fragte: Hast du es schon mal im Kino gehabt? Es gibt da eine Stelle bei Henry Miller. Wendekreis des Steinbocks. Oder war es der Krebs? Egal. Und sie streckte die Hand aus, umschlang meinen Hintern und zog mich an sich. Wieder wollte ich sie hindern. Kein Mensch war im Saal, aber ich hörte das Personal im vorderen Raum miteinander reden. Sie würden in der nächsten Minute hereinkommen, um die allabendliche Grobreinigung durchzuführen. Doch als ich ihren Mund spürte, floh die Welt in alle Richtungen.
    Die Wahrnehmung kam zurück, als Sandra ein wenig schwer schluckte, als hätte sie den Mund voller Sägemehl. Hastig schloss ich den Reißverschluss und warf mir meine Jacke über. Heute hast du wenigstens keinen Fleck in der Hose, sagte sie kühl, stand auf, nahm ihre Handtasche und ging zielstrebig auf die Tür zu. Als ich sie so sah, überkam mich etwas wie Scham und Mitleid. Ihre traurige, kleine Gestalt, die schon jetzt so verbraucht wirkte, weckte in mir zugleich Abscheu und Beschützerinstinkte. Hey, warte, rief ich ihr nach. Lass uns zusammen gehen. Sie drehte sich um, hob ein wenig ihre Brauen, so dass ihre Nase noch schärfer wirkte, und sagte: Davon steht nichts im Drehbuch. Weg war sie. Geht noch eins? Klar, oder? Was, du nimmst noch einen Whiskey? Mann, im letzter Zeit füllst du dich aber gut ab. Na egal. Andrea! Noch zwei und einen von diesen Irischen. Danke.
    Die Situation war als o die folgende: Ich fand sie hässlich und unangenehm, aber trotzdem höchst erotisch. Und wie reagiert ein Mann? Er folgt der Duftmarke der Erotik. Sie dagegen machte nicht die geringsten Anstalten, sich mir zu nähern. Im Gegenteil. Sie nahm mich, wie man den Gewinn im Preisausschreiben des städtischen Zeitungssurrogats nimmt, bei dem ein Strauß Plastiktulpen winkt. Den man gleich darauf in den Müll wirft. Kein Entgegenkommen, nichts Gemeinsames. Ich wollte diesen Ausnahmesex, der mir nichts abverlangte als den Mut, meinen Nerven zu trotzen. Und mir zugleich etwas bot, was ich noch nie gehabt hatte. Aus meinen Ergüssen erwuchsen keine Verpflichtungen, die viele Beziehungen an den Rand von Dantes Hölle bringen.
    Sie machte es, dann ging sie. Aber ihre Geschäftsmäßigkeit ärgerte und demütigte mich auch, so dass ich wünschte, ein klein wenig Abhängigkeit in ihr zu wecken. Und so entsteht aus Abneigung etwas, das der Liebe zum Verwechseln ähnlich sieht. Ich wollte sie haben und auf dem Bratenrost der Gefühle singen hören. Ich wollte ihren Empfindungen nachspüren, den Sitz ihrer Geschlechtlichkeit entdecken. Sehen, wo die literarische Figur in den Menschen übergeht. Ich wollte die Frau zur Frau werden sehen. Ich wollte sie nackt.
    Aber sie machte es mir nicht einfach. Sie kam nie mehr in diesen Film. Ich begriff später, daß sie ihn seit unserem ersten zufälligen Treffen jeden Abend gesehen hatte, um ihn wirklich verstehen und bewerten zu können. Sie mied auch den Schwan. Und ich kannte nicht mal ihren Nachnamen. So fing ich an, im Freundeskreis nach Zeichen von ihr zu forschen. Jeder hatte sie schon mal gesehen und verzog das Gesicht wie du vorhin. Ich bekam nicht viel heraus, bis ich José traf. Er wohnte im Haus neben ihr. Ich rief nicht an, schrieb keinen Brief, sondern ging einf ach am folgenden Samstag gegen Mittag hin und klingelte. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen würde. Ich wusste nicht, was genau ich von ihr wollte. Sie öffnete mir.
    Sie war ja wirklich nicht schön. Aber dieser Anblick war schon fast verstörend. Sie trug einen gestreiften Herrenschlafanzug, der vor ihr ungefähr dreißig anderen gehört hatte. Und das waren Menschen gewesen, die unter Brücken schlafen. Ihr dünnes blondes Haar hatte es aufgegeben, als weiblicher Schmuck gelten zu wollen. Es fiel fettig und strähnig herab und entblößte unnachsichtig eine

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