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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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manchmal für Momente, deren Dauer ich nicht abschätzen konnte, da ich sofort in ein ranziges, von wirren Visionen bevölkertes Dösen versank. Aber sie kam immer wieder und machte da weiter, wo sie aufgehört hatte. Ein Kapitel nach dem anderen las sie aus dem Buch unserer unseligen Bekanntschaft vor. Ich war mittlerweile so erma ttet, träge und übersättigt, dass ich zum Pinkeln gar nicht mehr aufstand, sondern eine Teekanne benutzte, die neben dem Bett auf einem schmierigen Tablett stand. Sie muss sie gelegentlich ausgeleert haben, denn sie war immer betriebsbereit.
    Am frühen Morgen des letzten Tages, als sie mir gerade aus Sperbers Träne im Ozean vorlas, um mich über die verschiedenen Schattierungen politischer Ideologien zu informieren, verrutschte die Schulterpartie des Schlafanzugs, den sie immer noch trug. Ich sah ein kleines, runzeliges Brüstchen hervorlugen. Es war nur ein ziemlich unansehnlicher Hautlappen mit einer rosigbraunen Knospe, doch der Anblick machte mich wahnsinnig. Es gelang mir, mich in einer übermenschlichen Anstrengung über sie zu werfen und sie mit meinen Armen zu umschlingen. Da hackte sie mir wie ein in die Enge getriebenes Frettchen ihre Zähne in den Oberarm, zog mir ihre Krallen über das Gesicht und versuchte, mir das Knie zwischen die Beine zu rammen. Dieser geballte Angriff war für meine Konstitution zu massiv. Ich zog mich jammernd auf meine Seite des Bettes zurück, betastete meine blutenden Wunden und fühlte mich wie ein Missionar, der trotz seiner guten Absichten im Kochtopf einer Bande von Kannibalen landet. Aber es gab auch eine positive Seite. Ich war plötzlich hellwach, gepackt von seltsamen Lüsten und aufgepumpt vom Adrenalin.
    Sie war verschwunden. Ich stand auf, schlich durch den Flur und versuchte, herauszubekommen, wo sie sich aufhielt. Ich hörte das Plätschern im Wasser der Toilette, zögerte kurz und stieß dann die Tür zum Badezimmer auf. Mit herabgelassener Hose stand sie direkt vor mir und präsentierte mir das, was sie mir so lange vorenthalten hatte. Sie war nicht Mann noch Frau. Ich sah eine von krautigen Haaren umgebene Spalte, aus der ein winziger, magerer Schwanz hervorschaute. Das Grauen, fiel mir ein. Das Grauen. Mit dieser Verunstaltung musste die arme Person also leben, mit diesem schlechten Scherz eines unbarmherzigen Schicksals. Aber mein Ekel und Überdruss waren größer als das Mitleid. Auch ich war erbarmungslos. Ich blickte von ihren unentschiedenen Genitalien in ihr entsetztes Gesicht, drehte mich um und stürzte ins Schlafzimmer zurück, wo meine Kleidungsstücke verstreut herumlagen. Ich hörte, wie die Badezimmertür zuschlug und sich der Schlüssel im Schloß drehte. Bis ich die Wohnungstür hinter mir zuzog, nahm ich keine weiteren Geräusche wahr.
    Es war sehr früh am Morgen, und ich ging mehrere Stunden in der Stadt umher. Ich hörte die Vögel, die Luft war mild. Die ersten Rolläden wurden hochgezogen, ein paar einsame Autos zogen vorbei. Und ich sehnte mich nach den menschlichen Meisterwerken, die die Natur zuweilen auch zu schaffen versteht. Arme Sandra.
    Sie ist tot. Wusstest du das nicht? Hat sich wenig später umgebracht. Aufgehängt. Irgendwie verständlich, oder? Komm, lass uns zahlen.
     
     
     

31. JAGD
     
     
    Ein Rabe flog krächzend durch seinen Traum. Er erwachte fröstelnd und spähte durch die beschlagene Windschutzscheibe. Tiefste Nacht, regenfeucht. Kein Mensch in Sicht. Das Krächzen wiederholte sich. Es kam aus dem Funkgerät. Wahrscheinlich das Räuspern eines dieser komischen Planeten, von denen die Erde umgeben war. Er kannte sich in diesem Chaos von Kugeln nicht aus, die angeblich willenlos um die Sonne kreisten. Für ihn war die Erde eine Fläche wie diese Stadt, in der er lebte. Es gab Höhen, es gab Täler, aber das glich sich aus.
    Im übrigen war es ihm noch nie gelungen, die Krümmung der Erdoberfläche mit seinen eigenen Augen wahrzunehmen. Im Leben zählte doch schließlich, was über die eigenen Sinne erfahrbar war, denn sie waren das von der Natur verliehene Instrumentarium, die Menschenwelt zu erleben. Alles andere war Ballast. Was nutzte ihm das Wissen über nicht erfahrbare Mysterien, die sich irgendwelche verrückten Wissenschaftler in Los Alamos oder Peenemünde ausgedacht hatten? Die sollten sich ihre in sich gekrümmten Ebenen und Parabeln in den Arsch schieben. Er war Taxifahrer, und für ihn gab es nur zweidimensionale Fuhren – von A nach B auf mehr oder minder ausgebauten

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