Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
Vom Netzwerk:
wächserne, bleiche Kopfhaut. Ihre Füße steckten in der Art Filzpantoffeln, die mein Großvater zu seinem Unwillen jedes Jahr von seinen Kindern zu Weihnachten bekam und die er als Vorwurf dann zu tragen pflegte, wenn er seiner Frau böse war. Ihr Gesicht war weiß, aber die scharfe Kante ihrer Nase war weißer. Ich erschrak und stammelte: Bei dir alles ok? Ach du, sagte sie müde, bin gerade aufgestanden. Komm rein. Sie trat zurück, und ich ging an ihr vorüber in den Korridor.
    Es war eine kleine Zweizimmerwohnung, aber für sie schien die Pflege von zwei Zimmern gleichbedeutend mit der Instandhaltung eines schottischen Schlosses. Die Verwahrlosung, die sie ausstrahlte, setzte sich hier fort. Mattfarbige Flecken unterschiedlichster Konsistenz, Schleifspuren auf dem Boden, Kratzer an Möbeln und Türrahmen, wieder eklige Flecken und mit dem Luftzug umherschweifende Staubwolken. Wollmäuse nannte meine Mutter diese eher niedlichen Zusammenballungen von Staub und Haaren, die sich etwa eine Woche nach ihrem letzten Hausputz in manchen Ecken versammelten. Hier waren es Wolltrolle. Ich war leicht angeekelt, fühlte mich versucht, mich zu kratzen, und schaute mich nach Eimer und Lappen um. Die offensichtlich eigenhändig angeklebten Tapeten, eine den Veitstanz beflügelnde Variation in Gelb und Orange, lösten sich oben und unten von der Wand. Der Teppich im Wohnzimmer hatte offenbar eine Eierschlacht mühsam überlebt. Und die ehemals grüne Tischdecke auf dem Küchentisch starrte dermaßen vor Schmutz, dass sie bei einem Wolkenbruch als gut imprägnierter Schirm hätte dienen können.
    Ich weiß nicht, wie es kam. Sie briet sich zum Frühstück ein paar Eier, die schon in der Pfanne schmurgelten. Sie hatte neben dem Herd ein paar Scheiben Speck bereitgelegt. Plötzlich sagte sie: Lass es uns damit versuchen. Und dann kniete sie vor mir, öffnete meine Hose und wand die Speckscheiben um meinen Schwanz. Da sie nicht halten wollten, befestigte sie sie mit Gummiringen. Dann fing sie an, das geräucherte Fleisch von mir herunterzunagen. Himmel, sie hätte Drehbücher für Sexfilme schreiben sollen. Sie war hässlich, sie war verwahrlost, sie war ekelhaft. Aber wir landeten anschließend trotzdem in ihrem Bett. Ich, weil ich nicht mehr stehen konnte. Sie, weil sie hier wohl einen großen Teil ihres Wochenendes verbrachte.
    Auch das Bett war eine Kloake. Hier fand ich das Logbuch der gärenden Prozesse, die im Inneren von Menschen vor sich gehen. Wir lieben die manchmal hinreißend schönen, hautumhüllten Geschöpfe, nicht aber ihren schleimigen, klebrigen und stinkenden Kern. Von dem aber kündeten diese Laken. Ich war nicht nur zu schwach, um mich zu ekeln, sondern verspürte wieder diesen perversen Reiz. Angst und Sex, Ekel und Sex. Ungleiche Geschwisterpaare. Umgeben war dieser Pfuhl allerdings von allem, was der menschliche Geist jemals Glänzendes ersonnen hat. Berge von Büchern, aus denen sie mir in den folgenden drei Tagen vorlas. Ich lag antriebslos da, wurde leergesaugt und mit Geist wieder aufgefüllt. Sie las mir aus Tolstoi, Spengler, Freud vor. Sie rezitierte fehlerfrei Dialoge aus Shakespeare-Dramen. Sie verknüpfte die Nibelungen mit Tolkien. Sie legte Bartok, Debussy und Miles Davis auf, um mir die zwingende Verwandtschaft darzustellen. Zwischendurch kochte sie Kaffee, wärmte eine Dose mit Erbsensuppe auf oder holte Wein und Zigaretten.
    Apropos Wein. Hey, hörst du noch zu? Willst du noch ein Bier? Ja? Ok. Andrea, zwei bitte. Sag mal, hat sie nicht ein wenig zugelegt in der letzten Zeit? Runder geworden, oder? Wo war ich? Ach so. Wir ergänzten die Spuren auf dem Bettlaken. Sie war sehr erfinderisch und fleißig, was das Herauslocken meines Spermas anging. Selbst verlangte sie nichts. Ich lag da wie ein benebelter Pascha im Kreise seiner zwanzig Lieblingsfrauen, völlig paralysiert und ohne Willen, ließ mich belehren und karessieren. Ein schönes Wort, oder? Mir kam es vor, als wäre alles da, was das Leben ausmacht: ein Ort zum Sein, Essen und Trinken, Zeit zum Schlafen und Dösen, eine Stelle zum Entleeren und eine schamlose, erfindungsreiche Sklavin, die mir mit der Zeit jegliche Kraft stahl.
    Aber ein Gedanke überlebte diese Auszehrungskur: Ich wollte sie nackt. Doch immer, wenn ich nach ihr griff, entzog sie sich geschmeidig und wurde kalt und böse. Was willst du noch, du Parasit, höhnte sie dann. Du bekommst alles, was dir zusteht. Aber meine Freiheit wirst du nicht antasten. Sie verschwand

Weitere Kostenlose Bücher