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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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Straßen.
    A war allerdings heute wie der Saturn um Mitternacht. Er stand an der Apostolischen Kirche, und das als Diaspora bezeichnen zu wollen, hätte immerhin das Vorhandensein von menschlichem Leben vorausgesetzt. Doch seit mehr als zwei Stunden sah er, wenn er nicht gerade schlief, nur die kalt glimmenden S chemen von Gespenstern, die wie überdimensionierte Glühwürmchen über den Friedhof schwebten. Diese Verblichenen benötigten kein Taxi, um ein Ziel zu erreichen.
    Eine tote Ecke. Die Dispatcher in der Zentrale gaben ihm gerne s olche Stellen. Sie glaubten, dass sein altersschwacher Diesel nicht für belebtere Gegenden taugte, und sie hatten ja auch nicht ganz unrecht. Aber wie sollte er die neue Windschutzscheibe bezahlen, wenn er ständig in eine Sackgasse gestellt wurde? Das inzwischen ranzig riechende, zerbeulte und in allen Gliedmaßen ächzende Auto war seine einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, wenn man vom Betteln einmal absah.
    Wieder ein Geräusch aus dem Lautsprecher, dieses Mal ein Klicken, als hätte jemand einen Schalter betätigt. Dann eine rauhe Stimme: „Hier Charly zwei. Ich habe ihn. Ist allein und geht Richtung Bahnhof. Mann, der sieht aber lädiert aus! Den hat schon jemand in der Mache gehabt. Ende.“ Der erste Sichtkontakt war hergestellt. Endlich wagte der Junge sich mal wieder aus seinem Ghetto heraus. Jetzt würden die anderen mit ihren Autos einen großen, mäandernden Kreis um den gemeldeten Standort bilden und dann auf weitere Meldungen warten, um die Schlinge zuzuziehen.
    Es ging um einen Denkzettel, um das biblische Prinzip: Auge um Auge. Dieses Schwein, das sich jetzt zu Fuß in Richtung Innenstadt bewegte, hatte einen Kollegen abgestochen. Und der landete nach kurzem, für ein paar Ärzte und Schwestern ziemlich kurzweiligem Aufenthalt im Krankenhaus in einer Holzkiste, die samt Inhalt von einem langen, schwarzen, auf Hochglanz polierten Kombi mit Schwiegermuttergardinen in den hinteren Fenstern zur nächsten Station der Beseitigung transportiert worden war.
    Solche Sitten durften nicht um sich greifen, das war die Meinung aller Kollegen. „Es gilt, ein Exempel zu statuieren, um der artigen Strolchen in einer unmissverständlichen Sprache mitzuteilen, dass das Ermorden von Taxifahrern in dieser Stadt nicht gern gesehen ist.“ So hatte Lemon, der ehemalige Germanistik-Student aus Marburg, die Situation auf seine Weise erläutert. Achmed, der einen Apfel auch als Apfel und nicht als baumgebundenes, duftendes Rund in buntem Schalengewand bezeichnen konnte, nutzte eine andere Terminologie: „Paar auf die Maul, dann die wissen.“
    Jacko starrte noch einmal zu den friedlich dahinwehenden Schemen herüber, als könnte von dort aus ein Dispens von den jetzt notwendige n Aktivitäten ergehen. Dabei wusste er aus Erfahrung, dass sich diese Wesen in ihrer eigenen Welt bewegten und sich um Lebende nicht kümmerten. Vielleicht waren sie in der Lage, die Krümmung der Erdoberfläche wahrzunehmen, aber die Anwesenheit von Menschen ignorierten sie. Vielleicht hatten sie recht, wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, womit man sich dort seine Langeweile vertrieb. Immer nur über den feuchten Gräbern umherschweben und glimmen?
    Er vergewisserte sich, dass sein Gummiknüppel in den Klammern an der Fahrertür befestigt war, startete mit vielen Anlasserdrehungen und einer einzigen knallenden Fehlzündung den Motor und verließ seinen Standplatz. Er machte nicht gerne mit. Aber er sah die Notwendigkeit. Schließlich wollte er nicht der nächste tote Taxifahrer sein. Außerdem war er froh, diesen Ort verlassen zu können. Hier hätte er ohnehin keine Fuhre bekommen. Wer ging schon bei derart miesem Wetter abends auf einen unbeleuchteten Friedhof, der auch noch Tote einer eher unbedeutenden religiösen Richtung beherbergte. „Hier Bravo Delta. Objekt ging gerade vorbei. Richtung gleichbleibend. Ende.“ Das war Theo, der Grieche. Er war an der Hauptstraße postiert, die von Osten in die Innenstadt führte. Er würde jetzt ein paar Minuten warten und dem Kerl dann langsam in Sichtweite folgen. So zog sich die Schlinge zu. Die Strategie, wie der angeblich bei einer baskischen Befreiungsbewegung ausgebildete, angebliche ehemalige Widerstandskämpfer Carlos das Ziel der Aktion genannt hatte, war klar. Aber keiner wusste, was im Augenblick des Zusammentreffens geschehen würde.
    Es hatte bei diversen Treffen am Bahnhofskiosk lautstarke Diskussionen darüber gegeben. Da die Polizei allem

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