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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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Wunder. Ich habe ihn ja in den Redaktionssitzungen ein paarmal tüchtig zusammengestaucht.
    Ich bin dann gerade über die Straße zum Kiosk, wo schon ein paar von meinen neuen Brüdern standen. Sie rochen etwas streng und waren auch sonst nicht weiter repräsentativ, aber immerhin glichen sie richtigen Menschen. Sie fremdelten erst ein wenig. Stellten sich ihre Plastiktüten zwischen die Beine, damit ich nicht so leicht an ihren Schnaps kam. Aber als sie hörten, was mir passiert war, wurden sie freundlich. Ließen mich ein paar Runden Dosenbier ausgeben und klopften mir wohlwollend auf die Schulter. Gute Freunde, sobald man zu den Verlierern gehört und ein paar Bier spendiert. Aus Dosen. Echt widerlich.
    Äußerst nett, so ein Leben an der Bierbude. Hat mich mächtig aufgebaut, mal dazugehört zu haben. Nur noch zwei Gehälter, dann kommt nichts mehr. Die Kündigungsfristen sind ja heute auch nicht mehr, was sie mal waren. Sechs Wochen! Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutet? Ich habe ja nicht mal Ersparnisse, verstehst du. Wovon auch. Scheiße, wie soll ich das nur Wilma beibringen? Wovon lebt sie? Und womit soll sie die Tennisstunden, die Fünfhundert-Mark-Sportschuhe der aktuell im Trend liegenden Marke, die zwölf Haustiere, die Privatschule und die motorisierten Untersätze für die Kinder bezahlen?
    Ja, das wuss test du nicht, oder? Wenn man heute sechzehn ist, benötigt man einen Motorroller, um sich in den sonnigen und warmen Stunden des Jahres ein wenig fortbewegen zu können. Von der Schule in die Eisdiele in das Schwimmbad in die Pizzeria. Wenn es allerdings regnet oder unter fünfundzwanzig Grad ist, muss die Mutter eine doppelte Schicht Taxidienst einlegen. Wilma verbringt den größten Teil des Tages damit, ihre Kinder mit dem Auto durch die Gegend zu fahren. Wahnsinn, oder? Verstehst du jetzt die rätselhaften Staus um halb zehn und halb eins? Alles verrückte Mütter, die ihre verfetteten Kinder zu Kindergarten und Schule bringen und dann wieder abholen. Wilma kommt dadurch nicht mehr zu den ganz normalen und heute ja nicht mehr so anstrengenden Hausarbeiten. Ihre Eltern haben das eingesehen. Sie bezahlen ein Dienstmädchen, das die Wäsche wäscht und bügelt, das Geschirr spült, kocht und einkauft.
    Hat dich jemals jemand gefragt, ob er dich zur Schule bringen soll, wenn es regnete? Und wie sind wir bei jedem Wetter zur Schule gekommen? Zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Zur Not noch mit dem vollgestopften, nach Fürzen und Schweiß stinkenden Schulbus. Aber das soll ja heute so gefährlich sein. Ach, weißt du, das kennst du einfach nicht. Du kannst da nicht mitreden. Ich bezahle jeden Monat eine Menge Geld, und das geht ja auch in Ordnung. Schließlich sind zwei der Kinder von mir, und ich möchte alles tun, damit es ihnen gutgeht. Aber was mit diesem Geld angefangen wird, ist einfach absurd. Das ist einfach ein besinnungsloses Verprassen von mühevoll erworbenen Ressourcen. Ich könnte dir noch viele Beispiele nennen. Aber lassen wir das. Regt mich immer wieder auf.
    Weißt du, was mich Giacomo neulich fragte? Wir gingen spazieren, wie immer durch die Einkaufsstraße. Da will er immer hin, um in die Schaufenster zu schauen und zu ermitteln, was gerade Mode ist. Natur langweilt ihn. Plötzlich zeigt er auf ein paar Sportschuhe für vierhundertfünfzig Mark. Papa, die sind toll. Kann ich die haben? Ich sah den Preis und sagte: Nein. Für das Geld kaufe ich dir fünf Paar Schuhe. Aber die sind doch geil. Geil! Hm. Macht nichts, sagte ich. Da dreht er sich zu mir um, schaut mich lange ernst an und sagt: Das schuldest du mir aber. Schließlich hast du uns verlassen, und seitdem habe ich einen psychischen Defekt. Er konnte das schwierige Wort ohne Stocken aussprechen. Ausgekocht, das Bürschchen. Ich fasste ihn ein wenig fest am Arm, um ihm klarzumachen, dass ich dieses Geld mit saurer Arbeit verdienen muss und dass ich eine ganze Woche davon leben könnte. Da riss er sich kreischend los, schrie: Das sage ich der Mama, und schoss davon.
    Wilma hättest du erleben sollen. Sie ist voll und ganz aus ihrer Esoterikphase ausgestiegen und ma cht jetzt auf Wohlstand. Angepasst an diese Meine-Kinder-sind-mein-Lebensmittelpunkt-Mode. Ein Scheißdreck, entschuldige. Kinder sind Kinder, und die Aufgabe der Eltern ist es, sie für ein selbstverantwortliches, tätiges und hoffentlich einigermaßen zufriedenes Leben vorzubereiten. Was machen die Mütter? Sie legen ihre Brut in ein Bett aus duftender

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