Variationen zu Emily
Nach ihr, die mich vervollständigte, mich zu dem Menschen machte, der ich gerne gewesen wäre.
Wir trafen uns noch zwei- oder dreimal, und erst beim dritten Abschied wagte ich, sie wortlos zu umarmen und auf die Wange zu küssen. Ich wusste: Hier war das Wesen, für das zu leben sich lohnte. Kurz darauf teilte sie mir am Telefon mit, dass sie mit ihrer Familie für längere Zeit verreisen würde. Aber du kannst mir gern deine schönen Briefe schreiben, sagte sie. Dann wird mir die Zeit nicht so lang. Kaum war sie abgereist, fing ich damit an. Ich schrieb ihr eine Kurzbiographie, die fünfzehn Seiten umfasste. Ich schrieb ihr einen zehnseitigen Liebesbrief, in dem ich ihr gestand, dass ich immer nur auf sie gewartet hätte. Ich schrieb wie Balzac, einen Brief nach dem anderen, ruhelos und voller Mitteilungsdrang.
Wenn ich nicht an sie schrieb, füllte ich mein Tagebuch mit Gedanken über sie. Ich sammelte Material aus manchmal abstrusen Quellen, d as ihr beweisen sollte, dass wir zusammengehörten. Wenn ich Lebensmittel einkaufte, fragte ich mich, was sie wohl gerne aß. Wenn ich im Buchladen stand, überlegte ich, was sie wohl gern lesen würde. Ich dachte nur an sie und lief herum wie ein professioneller Beerdigungsredner. Mein Lächeln war gefroren, mein Magen eine Versteinerung aus dem Trias. Meine Hoffnungen und Erwartungen wuchsen, wurden innerhalb von Wochen zu hundertjährigen Bäumen mit verzweigtem Wurzelwerk und wuchernden Trieben. Meine Freunde, anfangs besorgt über mein seltsames Verhalten, nahmen mich mal wieder nicht ernst.
Komisch. Aus ein paar verklärten Erinnerungen, ein paar zarten Gesten und einem großen Loch im Herzen zimmerte mir das Schicksal eine maßgeschneiderte Obsession, die groß genug war, um mich ihretwegen umzubringen. Sie würde zurückkommen und sich von ihrem Mann trennen. Und die Kinder? Egal. Ich konnte auch mit Kindern auskommen. Und das Geld? Ich würde eben arbeiten, anstatt lustlos zu studieren. Es gab keine Frage, die ich nicht der art lapidar zu beantworten gewusst hätte. Alles war einfach. Aber: Es kam kein Brief. Keine Ermutigung, keine Zurückweisung. Ein Eremit mag sich so fühlen, wenn trotz heftigster Gebete und Selbstmisshandlungen nach Monaten der Entbehrung keine gebackenen Heuschrecken in der draußen aufgestellten Schale liegen.
Warum antwortete sie nicht, zum Teufel. Wer stellte sich mir in den Weg. Die richtige Antwort lautete: Es war der Weg selbst, denn sie war am anderen Ende der Welt. Für mich aber waren feindliche Personen am Werk. Der Postbeamte. Der Karawanenführer. Eine Abordnung von lanzenschwingenden Wegelagerern in Burnus und Turban. So heißt das doch, oder? Aber warum sollten diese Jungs immer wieder ausgerechnet die Säcke mit meinen Briefen entwenden? Als erfahrener Krimileser stellte ich mir schließlich eine scheinbar vernünftige Frage: Wer eigentlich hatte das zwingendste Motiv? Es gab nur eine Antwort: Der eifersüchtige Ehemann, der meine weißglühenden Episteln an eine abwesende Göttin womöglich gelesen und in die Mülltonne gesteckt hatte. Also schrieb ich ihr inkognito, mit einem anderen Absender. Ich schickte einen Brief an ihren Bruder, den ich ebenfalls kennengelernt hatte, und bat ihn, den verschlossenen Umschlag an seine Schwester weiterzuleiten. Ich bezahlte Zuschläge für Luftpost, Einschreiben und persönliche Zustellung per Eilesel. Und verzehrte mich in meiner selbstgemachten Agonie.
Dann endlich, nach einer Myriade dunkler, versoffener Nächte, kam ein Brief. Allerdings ein ziemlich alter, wie sich herausstellte. Sie hatte beim Verfassen nur meine ersten beiden Episteln erhalten und zeigte sich geschmeichelt wegen meiner Liebeserklärung, aber auch verunsichert. Das packte sie in einige wenige Sätze und plauderte dann über Land, Leute und Familie. Wie gehabt: Arun ist krankgeworden. Rajiv kann morgen den Hund nicht hüten, weil Omar in einen Seeigel getreten ist. Ich kam nicht weiter vor. Keine Entscheidung, keine Absichtserklärung, keine Ermutigung. Mein Feuer hatte offensichtlich nur mich entflammt und grausam versehrt.
Allenfalls fand ich einen anderen, zaghaft zärtlichen Klang in den Abschiedszeilen. Ein kleiner, süßer Ton. Aber es war ein Ton, der vor Monaten erzeugt worden war. Ich schrieb, und ich wartete. Wartete wie ein Verstorbener auf das Jüngste Gericht. Und dann, nach Monaten, rief sie plötzlich an und kanzelte mich ab. Wie ich dazu käme, ihrem Bruder einen solchen Brief zu schreiben? Und
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